Rassistische Eskalation im Mittelmeer und solidarische Praxen

Das Lager Moria ist endlich Geschichte. In der Nacht zum 8. September ist das überfüllte Freiluft-Gefängnis auf Lesbos vollständig abgebrannt. Die Erleichterung über das Ende von Moria reicht allerdings nur soweit, als dass zwar nun Raum für Neues existiert, aber das Neue wird für die Menschen kaum eine Verbesserung bedeuten. Die bisherige Politik der Inhaftierung und Aussonderung wird sich nicht ändern, auch wenn im besten Falle wirklich einige hundert Menschen evakuiert werden. Die auf Lesbos und anderen Inseln gefangenen Menschen werden weiter eingesperrt sein, ein neues Lager ist im Bau, das die Menschen maximal stundenweise werden verlassen dürfen.
Neben der Internierung von Geflüchteten auf Lesbos, Chios und Samos und vielen Abschiebungen werden auch die Neuankünfte von Geflüchteten in Griechenland mit allen Mitteln verhindert. Die faschistischen Angriffe auf den Inseln finden ihre Entsprechung auf dem Meer, durch eine weitere Eskalationsstufe der Gewalt gegen Boote während der Überfahrt: Die Griechische Küstenwache will unter der neuen rechtskonservativen Regierung Ankünfte in Griechenland um jeden Preis verhindern. An der Seegrenze zur Türkischen Such- und Rettungszone (SAR-Zone) werden Boat-people von maskierten Männern empfangen und zurück Richtung Türkei gezwungen. Sie werden angegriffen und die Boote zerstört oder auf dem Meer treiben gelassen, nachdem ihnen Motor und Treibstoff entwendet wurde. Zugleich wird die Dokumentation derartiger Verbrechen sowie jegliche solidarische Unterstützung von Geflüchteten zu verhindern versucht, mit Gewalt oder durch Kriminalisierung.
2015 erreichten insgesamt rund 850.000 Menschen von der Türkischen Westküste aus die griechischen Inseln per Schlauchboot: Familien, Frauen, Kinder, Alte, Kranke und Gebrechliche. Sie zogen weiter, über die Balkanroute nach Norden. Als der „Lange Sommer der Migration“ ging 2015 als Erfolg für die Bewegungsfreiheit und gegen das Grenzregime in unsere Geschichtsschreibung ein.
Keine Rettung unter dieser Nummer
Die staatliche Seenotrettung der EU, sprich, Italiens und Maltas, hat sich inzwischen auf ein absolutes Minimum zurückgezogen. Für die Menschen auf der Flucht ist die Situation dramatisch bis tödlich. Im Bereich der 170 km breiten libyschen SAR-Zone wird entweder gar nicht gerettet (obwohl das Gebiet zum internationalen Gewässer zählt und die Intervention der Küstenwachen Maltas und Italiens rechtlich möglich wäre) oder die Menschen werden von den Menschenjägern der „Libyschen Küstenwache“ nach der Rettung nach Libyen geschafft, zurück in ein Kriegsgebiet und in die Folterlager, denen die Menschen entfliehen wollten.
Das Aufspüren der Boote durch die Libysche „Küstenwache“ ist dabei nicht dem Zufall überlassen. Dafür sorgt die Europäische Luftaufklärung wie Frontex und EuNavforMed. Boote auf dem Weg Richtung Norden sollen auf diese Weise möglichst schon vor Erreichen der Europäischen Rettungszone abgefangen werden, so lauten die Verabredungen zwischen Malta, Italien und Libyen.
Doch selbst wenn Boat-People die Europäische Rettungszone erreichen, bedeutet dies für sie keine Sicherheit. Illegale Rückführungen aus der Maltesischen SAR-Zone nach Libyen sind mehrfach nachgewiesen; die Dunkelziffer liegt sicherlich um ein vielfaches höher.
Freiheit für die El-Hiblu 3!
Auch Handelsschiffe werden in die illegalen Rückschiebungen nach Libyen involviert. Nur ein Beispiel mit ungewöhnlichem Ausgang: Im Frühling 2019 wurden 108 Menschen in Seenot in internationalen Gewässern von dem Frachter „El-Hiblu 1“ gerettet. Der Kapitän wurde von den europäischen Behörden angewiesen, die Menschen nach Libyen zurück zu bringen, doch die Geflüchteten fürchteten nichts mehr als das. Sie protestierten vehement gegen den illegalen Push-Back. Mit Erfolg: Die El-Hiblu drehte bei und brachte die Menschen stattdessen nach Malta. Öffentlich wurden die Geretteten als „Piraten“ und „Terroristen“ bezeichnet, doch als das maltesische Militär die „El-Hiblu“ stürmte, trafen sie nur auf Menschen, die Schutz in Europa suchten. Drei junge Männer stehen nun in Malta vor Gericht. Anstatt anzuerkennen, dass die drei über 100 Menschen von einer Deportation nach Libyen bewahrten, werden sie als Kriminelle behandelt. Die internationale Solidaritätskampagne „Free the El Hiblu Three!“ fordert die Freilassung der drei jungen Männer.
Bringen Handelsschiffe Gerettete nach Europa, ist inzwischen ein langes Ringen um das Einlaufen in einen sicheren Hafen vorprogrammiert. Der Frachter „Talia“ musste 5 Tage vor den Territorialgewässern Maltas ausharren, bevor die Geretteten Festland betreten und einen Asylantrag stellen konnten. Da Malta keine Rettung sandte, nahm schließlich die „Talia“ die Menschen an Bord. Nur durch das Engagement des Kapitäns und immensen öffentlichen Druck gelang schließlich die Durchsetzung der Landung in Malta. Anders verhält es sich mit dem Tanker „Maersk Etienne“, der am 5. August 27 Menschen rettete, kurz bevor ihr kleines Holzboot sank. Seit einem Monat wehrt sich Malta gegen die Aufnahme der 27 Menschen, der bislang längste Stand-off eines Handelsschiffs im Mittelmeer.
Die Rettungszone Maltas wird ihrem Namen nicht gerecht. Notrufe bei der dortigen Rettungsleitstelle werden nicht entgegengenommen, die für die Seenotrettung zuständigen „Armed Forces of Malta“ kommen entweder spät oder gar nicht. Der traurige aktuelle Rekord ist eine Verzögerung der Rettung erst 80 Stunden nach Eingang des Notrufs. Eine andere maltesische Taktik ist die Ausstattung von Boatpeople mit Treibstoff und Rettungswesten und dem Befehl, weiter nach Sizilien zu fahren. Tätliche Drohungen und die Zerstörung von Booten oder Motoren, wie dies aus auch aus der Ägäis bekannt ist, gehören ebenfalls zur Praxis des Maltesischen Militärs.
Kontinuierlicher Widerstand gegen das Grenzregime
Gleichzeitig wird die Europäische „Migrationskontrolle“ durch viele Ankünfte in Italien, vor allem auf Sizilien und der kleinen Insel Lampedusa herausgefordert. Aktuell kommen dort täglich Boote aus Tunesien und Libyen an. Von Zuwara in Libyen beträgt die Distanz nach Lampedusa rund 270 Kilometer.
Auch sind weiterhin zivile Rettungsschiffe im Einsatz. Die Diffamierung als „Schlepper“ und die darauffolgende Kriminalisierung und Festsetzung der „Iuventa“, des Schiffes der Organisation „Jugend rettet“, waren zwar der Beginn einer bis heute andauernden Welle von Behinderungen und Blockaden von NGO-Schiffen. Die zivile Rettungsflotte gibt aber nicht auf! Gerade waren die Sea Watch 4 und die Louise Michel das erste Mal im Einsatz. Die „Louise Michel“ – pink, feministisch, schnell und benannt nach der französischen Anarchistin – kann es bezüglich der Geschwindigkeit mit den Schnellbooten der Libyschen Küstenwache aufnehmen. Die Schiffe der zivilen Rettungsflotte sind die einzigen, die der Aufgabe der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer im eigentlichen Sinne nachkommen. Nicht zu vergessen die zivile Luftaufklärung: das kleine Flugzeug der Sea Watch „Moonbird“.
Der Bedarf nach solidarischen Praxen und praktischer Intervention gegen das EU-Grenzregime ist riesig und lässt uns gelegentlich mit Ohnmachtsgefühlen zurück. Doch vieles, was läuft, passiert unter dem öffentlichen Radar, ist versteckt und individualisiert, wie Aktivitäten gegen Abschiebungen oder solidarische Fluchthilfe. Daneben gibt es zivile Seenotrettung und die Versuche Geflüchtete kommunal aufzunehmen, gegen den Widerstand Seehofers und Co.
Wir machen weiter, allen Widrigkeiten zum Trotz! Kein Kielbreit den Rassist*innen!

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