Ein Reisebericht der Newroz-Delegation nach Wan/Kurdistan

 

Die Delegationsreise fand vom 17. bis zum 21. März statt. Wir waren insgesamt 17 Teilnehmer*innen aus verschiedenen deutschen Städten plus zwei Freunde aus Istanbul. Vor Reiseantritt war unklar, wie die türkischen Repressionskräfte auf uns als deutsche DelegationsteilnehmerInnen reagieren würden. Die örtliche Polizei hatte uns von der Ankunft in Wan an ständig auf dem Schirm, aber sie ließ uns gewähren. Wir wurden schon beim ersten Besuch des örtlichen HDP-Büros einer Leibesvisitation und Personalienaufnahme unterzogen – Alltag in einer Stadt unter türkischer Zwangsverwaltung. Türkisches Militär und Polizei sind allgegenwärtig: Wasserwerfer, Räumpanzer und gepanzerte Polizeifahrzeuge scheinen unaufhörlich durch die Straßen von Wan zu fahren, zeigen Präsenz und schüchtern ein.
Die Stadt Wan ist heute die zweitgrößte Kurd*innenmetropole in der Türkei. Nach dem gescheiterten Putsch und der Ausrufung des Ausnahmezustandes im vergangenen Juli steht die Stadt unter der Zwangsverwaltung der Türkei. Der Co-Bürgermeister und die Bürgermeisterin wurden wie in den vielen anderen von der HDP-regierten Städten und Gemeinden ihrer Ämter enthoben und wie viele andere inhaftiert. Der Bürgermeister von Wan wurde jüngst zu 12 Jahren Haft verurteilt, die Bürgermeisterin wartet noch auf ihre „Verhandlung“. Das ganze Ausmaß der Bedeutung von Ausnahmezustand und Zwangsverwaltung für die Menschen in Kurdistan sollte uns bereits in den ersten Gesprächen klar werden. Zuvor hatten wir ein wenig Zeit durch Wan zu laufen. Auffällig war das völlige Fehlen von kurdischen Farben, Plakaten zu Newroz oder der Hayir-Kampagne. Politische Parolen an den Wänden waren übermalt.
Die Delegation führte Gespräche mit Menschenrechtsanwälten der verbotenen mesopotamischen Anwaltsvereinigung, dem kurdischen Frauenverband und der Presse, dem Menschenrechtsverein IHD, der HDP und mit Gewerkschaftsvertreter*innen. Einige der Gespräche wurden bei www.civaka-azad.org veröffentlicht. 
Ich gehe hier exemplarisch auf einige der geführten Gespräche genauer ein.

Alle fortschrittlichen kurdischen Organisationen werden mit Repression und Kriminalisierung überzogen. Dies wurde bereits deutlich im Gespräch mit den Anwält*innen der mesopotamischen Anwaltsvereinigung. Viele dieser Anwälte und Anwältinnen wurden in Haft genommen, viele sind nach Europa geflohen. Es braucht sehr viel Mut, unter diesen Umständen die Arbeit fortzusetzen. Es gleicht einer schier unmöglichen Aufgabe, mit einer Handvoll verbliebener Anwälte die stetig wachsende Zahl politischer Gefangenen zu vertreten. Gleichzeitig wurden die Anwält*innen mit Inkrafttreten des Ausnahmezustandes nahezu all ihrer Rechte beraubt. Oft erhalten sie weder Aktenzeichen noch Akteneinsicht in die Verfahren ihrer inhaftierten Mandanten. Die Möglichkeit für vertrauliche Gespräche mit diesen gibt es nicht. Die Bedingungen der Gefangenen in den Knästen sind unerträglich: Erst nach 5 Tagen in Haft haben sie das Recht auf rechtlichen Beistand. Vor allem in diesen ersten Tagen werden die Gefangenen gefoltert. So wird den Anwält*innen nach diesen 5 Tagen oft durch die Gefängnisleitungen mitgeteilt, der oder die Gefangene wolle keinen Anwalt sehen. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Gefangenen gefoltert werden. Erst nach 30 Tagen müssen die Gefangenen einem Haftrichter vorgeführt werden. Die Zellen – vorgesehen für maximal 8 Gefangene – sind mit über 30 Gefangenen „vollgestopft“. Diese schlafen in Schichten, während die übrigen stehen müssen. Misshandlung und Folter sind an der Tagesordnung. Besonders bei Verlegungen von Gefangenen wird der Transport für Folter genutzt. Viele der politischen Gefangenen werden in weit entfernte Knäste verlegt, um sie von ihren sozialen Kontakten zu trennen. Ohnehin haben politische Gefangene nur noch alle zwei Monate ein Recht auf Besuch durch Familienangehörige. Im ganzen Land werden durch das AKP Regime neue Knäste gebaut. Das erklärte Ziel ist, die Anzahl der Gefängnisse zu verdoppeln. In Wan gibt es einen Gefängnis-Campus mit über 2.000 Haftplätzen nur für politische Gefangene und auch hier befinden sich weitere Gefängnisse im Bau, die die Kapazität verdoppeln sollen. Die Anklagen und die Urteile sind oft absurd und erfolgen nach dem copy-and-paste-Prinzip. Menschen, die dem kurdischen Freiheitskampf nahe stehen, werden der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt. Viele andere Gefangene sitzen jahrelang ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung im Knast. Oft werden die Gefangenen der kurdischen Bewegung direkt neben Zellen mit Gefangenen der Gülen-Bewegung gelegt, um Spannungen zwischen den Gefangenen zu schüren. Tatsächlich kommt es immer wieder zu Provokationen durch die Gülen-Anhänger.
Zehn kurdische Gefangene aus Wan beteiligen sich am unbegrenzten Hungerstreik der kurdischen Gefangenen, mit denen sie gegen die Haftbedingungen protestieren, aber auch die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen des türkischen Staates mit der PKK und die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan erzwingen wollen. Bislang ignoriert das Justizministerium ihre Forderungen.
Im Gespräch mit einigen Frauenaktivistinnen und einer Friedensmutter (Mütter gefallener Kämpferinnen) erfahren wir, dass sich, nachdem die KJA (Kurdistan Jinen Azad) verboten wurde, sich die TJA (Tevgera Jinen Azad) gründete. Deren Räume ließ die Zwangsverwaltung aber inzwischen schließen. Alle unter der HDP geschaffenen Fraueneinrichtungen, der Frauennotruf, Frauenhäuser, ein Markt nur für Frauen, Frauenbildungs- sowie Kinderbetreuungseinrichtungen wurden geschlossen. Der Beschlagnahme der Räumlichkeiten folgte vielerorts die Umwandlung in Koranschulen. Es richtet sich ein ganz besonderer Hass gegen die kurdischen Frauen, die sich ihre gesellschaftliche Teilnahme erkämpft haben. Fälle von Vergewaltigungen gefangener Frauen und der Zurschaustellung entstellter nackter ermordeter Guerillakämpferinnen häufen sich. 
Die Vergleiche mit den für die kurdische Gesellschaft traumatischen 90er Jahren ziehen sich wie ein roter Faden durch unsere Gespräche. Immer wieder hören wir den Satz: „Heute ist es noch schlimmer als in den Neunzigern.“ Aktuell liegen im Leichenhaus von Wan ermordete Guerilla-Kämpfer*innen, deren Körper und Gesichter bis zur Unkenntlichkeit geschändet worden sind, weshalb eine Identifizierung durch die Angehörigen nicht mehr möglich ist. Gleichzeitig verweigert man diesen einen DNA-Abgleich. Selbst Friedensmütter werden mittlerweile mit Verfahren überzogen und inhaftiert. Auf Trauerfeiern getöteter Guerilla-Kämpferinnen ist es untersagt, Fotos der Getöteten zu zeigen. Die Beerdigungen werden angegriffen und Teilnehmer*innen festgenommen. So wurde ein Vater auf der Beerdigung seines getöteten Sohnes verhaftet, die Anwesenheit auf der Beerdigung mit der Unterstützung der PKK gleichgesetzt.

Das Gespräch mit den Journalist*innen kann man mit den wenigen Worten zusammenfassen: Eine kritische Berichterstattung ist nicht mehr möglich. Kritische Zeitungen sind verboten und viele Redakteur*innen und Journalist*innen verhaftet. Da ist es fast schon verwunderlich, dass die HDP und die DBP nicht auch schon verboten sind. Trotz ständiger Verhaftungen erheben diese mutigen Menschen ihre Stimme. Sie sind die Stimme des kurdischen Befreiungskampfes. Sie mobilisieren für das Newrozfest und sie rufen auf zum „Nein“ beim anstehenden Referendum zur Durchsetzung der Präsidialdiktatur. Wir haben sie auf ihrer Infotour zur Hayir-Kampagne durch den Distrikt Wan begleitet. Wir besuchten einen Vorort, in dem Mitte der 90er Jahre vom türkischen Militär aus den Dörfern vertriebene Familien angesiedelt wurden. Dort wurden wir mit offenen Armen empfangen. Das Interesse war groß: woher wir kommen und warum wir mit ihnen zusammen Newroz feiern wollen?
Am 21.03 17 fand das Newrozfest in Wan statt. Es war die zweitgrößte Newroz-Feierlichkeit nach Amed, mit 100.000 Beteiligten und fand außerhalb von Wan auf einem Gelände statt, das einem großen Freiluftgefängnis glich. Wir mussten eine enge eingezäunte Gasse mit zwei Polizeikontrollen passieren, um auf den komplett umzäunten Platz zu gelangen. Um den Platz herum standen Unmengen von Wasserwerfern und Polizeieinheiten. Obendrein wurde alles gefilmt, nicht zuletzt mit einer Drohne. Trotzdem herrschte unter den Teilnehmer*innen eine ausgelassene und kämpferische Stimmung. „Biji serok Apo“ war die am häufigsten gerufene Parole. Das Fest in Wan verlief friedlich. In anderen Städten genügte das Rufen von Parolen, die die Nähe zur PKK ausdrücken, um das Fest anzugreifen oder gar aufzulösen wie in Yüksekova. In Amed wurde ein Student von der Polizei erschossen. Eine Frau starb an den Verletzungen aus den Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Den letzten Tag unseres Aufenthaltes in Wan nutzte ein Teil von uns, um nach Yüksekova zu fahren.
Yüksekova, im Kurdischen Gever genannt, war eine der Städte, in denen im letzten Jahr eine kurdische Selbstverwaltung ausgerufen wurde. Bei den Wahlen im Juni 2016 erhielt die HDP 97% der Stimmen. Seit Jahren wurde die Stadt von der HDP regiert und konnte einiges durchsetzen. So wurde zum Beispiel in einer der Schulen in kurdischer Sprache unterrichtet. Gleichzeitig war um und in der Stadt eine enorme türkische Militärpräsenz. Mit Beginn der ausgerufenen Selbstverwaltung zog sich das türkische Militär in die Kasernen zurück und die Selbstverteidigungseinheiten begannen, die Stadt mit Gräben und Tunneln auf einen möglichen Angriff des türkischen Militärs vorzubereiten. In den Gesprächen, die wir mit Freund*innen in Yüksekova führten, erfuhren wir, dass niemand mit einer so brutalen Antwort des türkischen Staates gerechnet hatte. Zwei Wochen beschoss das türkische Militär die Stadt mit Artillerie, ganze Straßenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht. Nach zwei Wochen rückten türkische Militäreinheiten, unterstützt von IS-Kämpfern, in die Stadt vor. Sie drangen in die zerstörten und verlassenen Häuser ein, wo sie ihren Hass besonders an den Kleidern der Frauen und an Kinderspielzeug auslebten. Über 6.000 Häuser wurden zerstört und hunderte Menschen getötet. Bis heute konnte nur ein Teil der vertriebenen Familien nach Yüksekova zurückkehren. Den Menschen wird nicht erlaubt, ihre Häuser wieder aufzubauen. An einer Stelle, an der ganze Straßenzüge dem Erdboden gleich gemacht wurden, plant der türkische Staat den Bau einer Kaserne. Schon heute ist das türkische Militär mit 60.000 Soldaten in und um die Stadt präsent, bei einer Einwohnerzahl von ebenfalls 60.000 Menschen. Rückkehrwilligen Familien wird der Kauf von Wohnungen der staatlichen Baugesellschaft TOKÜ angeboten. Diese werden außerhalb der Stadt und für das Militär strategisch günstig gelegen in Plattenbauweise errichtet. Die ganze Stadt befindet sich bis heute im Belagerungszustand, in nahezu jeder Straße steht ein Panzer. Um von Wan nach Yüksekova zu gelangen, muss mensch zwei militärische Checkpoints passieren. Auf den Bergkämmen hat sich das türkische Militär verschanzt. 
Und trotzdem gibt es in Yüksekova Orte, in die sich das Militär nicht hinein traut. Hier sind wir willkommen und hier wird in einer vollkommenen Offenheit geredet.“ In Yüksekova sind vielleicht nicht alle mit der HDP einverstanden, aber alle stehen hinter der PKK. Die Menschen erwarten eine Rache der PKK für das erlittene Leid.“ Dies sagt uns ein Freund. Noch ist es Winter und die Guerilla in den Bergen zur Untätigkeit verdammt. Doch keine Woche nach unserer Rückkehr nach Frankfurt hören wir von Gefechten in der Nähe von Yüksekova: Die Guerilla hat einen Armeeposten angegriffen.

biji berxwedana pkk!