Vor 30 Jahren: Schüsse an der Startbahn 18 West

Im November diesen Jahres jähren sich die Schüsse an der Startbahn West zum dreißigsten Mal. Bei einer Nachtaktion an der Startbahn West, an der sich mehrere hundert Menschen beteiligten, wurden Schüsse auf Polizeibeamte abgegeben, zwei Polizisten starben. Dieses Ereignis war ein Novum in der Geschichte sozialer Bewegungen und stellte im Nachhinein eine Zäsur für die Startbahnbewegung und die autonome Szene im Rhein-Main-Gebiet dar. Die Schüsse wirken bis in die jüngere Geschichte des Widerstands gegen Fluglärm und Flughafenausbau nach – Grund genug, um sich den Ereignissen noch einmal zu nähern.

Eine kurzer Abriss der Geschichte des Startbahnwiderstands

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht Ende der siebziger Jahre trotz massiven juristischen Widerstands der betroffenen Kommunen die Flughafenerweiterung absegnet, werden erste Demonstrationen zum zukünftigen Baugelände organisiert. Bald darauf entsteht im Mai 1980 die BI-Hütte im Flörsheimer Wald, die als Anlaufpunkt und Unterstand im Wald dienen soll. Nach und nach entstehen weitere Hütten und Baumhäuser und das Hüttendorf nimmt Gestalt an. Viele politische Gruppen aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet unterstützten das Hüttendorf, bauen selbst Hütten und bringen Lebensmittel für die Dauerbesetzer mit. Die Anziehungskraft des Hüttendorfs sowie die ersten Waldrodungen Ende 1980 führen zu einer Solidarisierungswelle, die weit über das Rhein-Main-Gebiet hinaus geht. Nach einem Jahr voller Auseinandersetzungen, ersten Waldrodungen, brutalen Polizeieinsätzen („Blutsonntag“ im Oktober 1981 mit 40 Schwerverletzten) beginnt die Polizei am 2. November 1981 mit der Räumung des Hüttendorfs. Die BewohnerInnen werden von den Polizeihundertschaften überrascht und vom Gelände getrieben. Kurz danach beginnen Bagger und Räumgeräte mit dem Abriss der Hütten. Als Reaktion auf die Räumung demonstrieren bundesweit zig tausende Menschen, Bahnhöfe werden blockiert. In Frankfurt statuiert eine Bulleneinheit ein Exempel und verprügelt und verletzt zahlreiche vorher eingekesselte Demonstrierende in der Rohrbachstraße. Eine militante Rückeroberung des Geländes am folgenden Samstag wird durch eine Absprache mit den Bullen von StartbahngegnerInnen verhindert („Nacktensamstag“). Über Einhunderttausend Menschen demonstrieren am 14.11. in Wiesbaden für ein Volksbegehren. Eine Blockade des Terminals am folgenden Tag eskaliert, eingeflogene Prügelbullen vom BGS jagen Protestierende über die A3. Gleichzeitig greifen militante StartbahngegnerInnen das Startbahngelände massiv an.
In den nächsten Jahren folgen weitere größere und kleinere Aktionen rund um den Flughafen. Regelmäßig werden z.B. die Betonstreben der Mauer rund um die Startbahn-Baustelle aufgebrochen. Ein von den Bürgerinitiativen initiiertes Volksbegehrens lehnt die hessische Landesregierung ab. Trotz des Scheiterns des Versuchs, den Bau über die plebiszitäre, juristische Ebene zu verhindern, kommen immer wieder tausende Menschen in den Wald. Der ersten Jahrestag der Hüttendorfräumung wird mit einer Demonstration begangen. Bei harten Auseinandersetzungen kommt es zu zahlreichen Verletzten und Verhafteten. Im Februar 1982 startet der erste Sonntagsspaziergang vom SKG-Heim in Walldorf. Die Sonntagsspaziergänge, die nun regelmäßig stattfinden, sind einerseits Ausdruck des demonstrativen Nichteinverständnisses gegenüber den fortgesetzten Baumaßnahmen, andererseits sind sie ein wichtiger Ort sozialer Kommunikation und Austauschstelle von Informationen.
Im April 1984 wird die Startbahn 18 West „feierlich“ eingeweiht. Tausende von StartbahngegnerInnen lassen es sich nicht nehmen, noch einmal raus in den Wald an die Mauer zu gehen, sowohl Mauer als auch Infrastruktur der Startbahn werden an diesem Tag angegriffen. Nach der Eröffnung ziehen sich viele resigniert aus der Protestbewegung zurück.

Nach der Eröffnung der
Startbahn West

Im Jahre 1985 gibt die Flughafen AG ihren neuen Generalausbauplan bekannt, der eine massive Ausweitung der Infrastruktur des Flughafens vorsieht. Die sonntäglichen Spaziergänge und Demonstrationen zum Jahrestag der Hüttendorfräumung finden weiterhin statt. Eine Vielzahl der verbliebenen StartbahngegnerInnen beteiligt sich bundesweit an der Anti-AKW-Bewegung, an antimilitaristischen und antifaschistischen Kämpfen, sie sind eine feste Größe in der politischen Kultur, auch über das Rhein-Main-Gebiet hinaus. So sind auch viele StartbahngegnerInnen dabei, als in Frankfurt gegen eine Wahlkampfveranstaltung der NPD im Haus Gallus demonstriert wird. Nach einem massiven Polizeieinsatz gegen die AntifaschistInnen wird Günter Sare von einem Wasserwerfer überrollt und getötet. Es kommt zu tagelangen Protesten und Ausschreitungen in Frankfurt und anderen Großstädten.
Die Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 führt zu einer bundesweiten Wiederbelebung der Proteste gegen Atomanlagen. Es kommt zu einer Anschlagsserie gegen Strommasten. Bundesweit, so auch im Rhein-Main-Gebiet, werden Strommasten aus Protest gegen die Politik der Energie­unternehmen umgesägt. Am Jahrestag der Startbahneröffnung kommt es 1986 zu massiven Angriffen auf die Mauer und Polizeieinheiten. Der Flugbetrieb auf der Startbahn kommt für einige Zeit zum Erliegen.

Der 2. November 1987

Am Vorabend des 6. Jahrestags der Hüttendorfräumung ruft die BI gegen die Flughafenerweiterung Rhein/Main zum 300. Sonntagsspaziergang auf. Demonstriert wird gegen weitere Ausbaupläne der hessischen Landesregierung. 41 Hektar Wald sollen demnächst für Hangars, Werkstätten, Verwaltungsgebäude und einen Hubschrauberlandeplatz gerodet werden.

Am 2.11. versammeln sich einige hundert Menschen in Mörfelden und ziehen in Richtung Südostende der Startbahn, gemeinhin als „Chaoteneck“ bekannt. Nachdem der Zug das Kopfende erreicht hatte, kommt über Polizeilautsprecher die Aufforderung zur Auflösung der nicht genehmigten Versammlung. Die Bulleneinheiten, die hinter dem Zaun postiert sind, werden mit Steinen, Feuerwerk und Mollis angegriffen. Weitere Bulleneinheiten, darunter die relativ neuen BESI-Einheiten, die sich im Wald versteckt hatten, gehen zum Gegenangriff über und setzen den Leuten nach. Sie werden unterstützt von zwei Wasserwerfern und weiteren Einheiten, die durch ein Startbahntor ausfallen. Während sich der Großteil der StartbahngegnerInnen über den Gundbach in Richtung Südosten absetzt, bleiben die Wasserwerfer an brennenden Barrikaden hängen. Die Polizeieinheiten kommen am Bachlauf zum Stehen. Der Rückzug der Startbahngegner­Innen wird geschützt durch einen Hagel an Steinen, Stahlkugeln und Leuchtspurgeschossen. Zwischen 21:00 und 21:30 Uhr fallen die Schüsse aus einer geklauten Polizeipistole, die einem Zivibullen bei einer Großdemonstration gegen die Plutoniumfabriken Alkem-Nukem in Hanau entwendet wurde. Zwei Beamte sterben, weitere werden von den Schüssen verletzt. Wie aus vielen Berichten zu entnehmen ist, haben die meisten Beteiligten die Schüsse gar nicht wahrgenommen bzw. für Geräusche der Leuchtspurmunition gehalten.

Die Tage nach dem 2.11.1987

Nach dem die Bullen realisiert hatten, was passiert war, setzen umgehend massive Angriffe auf die autonomen Strukturen im Rhein-Main-Gebiet ein. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen. Zur Dimension der Repressionswelle zitieren wir hier der Einfachheit halber aus der Chronologie zu den Ereignissen aus dem Rhein-Main-Info 1 (Dezember 1987):

2.11.

• Straßenkontrollen in Mörfelden und Walldorf
• ca. 27 Festnahmen und 5 Hausdurchsuchungen; alle wegen „schweren Landfriedensbruch“ und Verstoß gegen Versammlungsgesetz“. Alle Festgenommenen kommen im Laufe des 3.11.87 wieder raus. Bei Festnahmen in Walldorf kam es zu 2 „Warnschüssen“ von Seiten der Polizei.
• sogenannte „Alibi-Überprüfungen im Großraum Frankfurt (mind. 10).

3.11.

• 6 Hausdurchsuchungen in Frankfurt und Durchsuchung des Libertären Zentrums in Ffm,
• 7 Festnahmen in Frankfurt u.a. wegen Mord; Beteiligung/Beihilfe, Nichtanzeige von Straftaten; schwerer Landfriedensbruch; bis auf Andreas E. sind alle nach 48 Stunden wieder draußen
• 12 Festnahmen in Ffm (10 aus Bonn, die in der Innenstadt, im Bahnhof und in einer Kneipe abgegriffen werden)
• Hausdurchsuchungen in Mörfelden-Walldorf

4.11.

• Hausdurchsuchungen und Festnahmen in Wiesbaden (ein Fest wird zum Vorbereitungstreffen des 2.11. erklärt…)
• Vernehmungen
• nochmalige Durchsuchung des Libertären Zentrums in Ffm und von zwei Wohnungen wegen § 129
• Durchsuchung einer Druckerei in Ffm
• 2 Hausdurchsuchungen in Ffm, u.a. wegen § 103 („Durchsuchung bei Zeugen“, „Auffinden von Beweismitteln“)
• 1 Festnahme wegen Mord und § 129a in Ffm (nach 48 Stunden wieder draußen)

5.11. – 13.11.87

• Hausdurchsuchungen in Walldorf; u.a. wegen „Beherbergung von Gewalttätern“
• Verhör von einem Kneipenbesitzer in Walldorf, dort sollen Vorbereitungstreffen zum 2.11. gewesen sein.
• ständige Polizeipräsenz in ­Mörfelden-Walldorf; Versuche, in ­Gesprächen Aussagen zu kriegen
• Hausdurchsuchungen in Mörfelden, Rüsselsheim, Wiesbaden, besonders wegen Fahndung nach Leuten
• ein 2. Haftbefehl existiert seit dem 6.11. gegen Frank H. (wegen Mord; angeblicher Fund eines Bekennerschreibens…) die Fahndung läuft verstärkt seit 10.11.
• besonders gegen die Familie ständiger Terror von den Bullen

13.11.

• Festnahme von „Beschuldigten“ des Mordes: 2 in Mainz, 1 Groß-Gerau (hier auch Hausdurchsuchung); § 129 in den Beschlüssen, abends alle wieder rausgelassen
• BI Versammlung in Mörfelden“

Hier wollen wir den Auszug aus der Chronik beenden – bis in den Dezember 1987 gibt es weitere Festnahmen mit Haftbefehlen, Hausdurchsuchungen, Verhören und Vernehmungen bei der Bundesanwaltschaft (am 3.12. gibt es eine weitere Durchsuchungswelle und Festnahmen –Hausdurchsuchungen im Raum Rüsselsheim (18), Frankfurt (2), Groß Gerau (1), Wiesbaden (1), Usingen (1)).

Bei dem noch in der Nacht zum 3.11. festgenommenen Andreas E. wird in einem Rucksack die Tatwaffe gefunden. Er wird 1991 wegen Totschlags und Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der Mordvorwurf konnte nicht aufrecht erhalten werden. Kurz nach seiner Festnahme belastete Andreas E. einen anderen Startbahngegner mit der Tat. Dieser wurde im März 1988 in Amsterdam festgenommen (auf seine Ergreifung war eine Belohnung von 100.000 Mark ausgesetzt worden) und später im Prozess wegen des Vorwurfs Mord/Totschlag freigesprochen.

Die Ermittlungen richteten sich aber nicht alleine gegen die direkt Beschuldigten der Schüsse des 2.11., sondern zeitgleich gegen eine „seit Mitte 1986 tätige kriminelle und später terroristische Vereinigung“ im Rhein-Main-Gebiet (Pressemitteilung der Generalbundesanwaltschaft). Dieser Gruppe werden u.a. mehrere Strommastfällungen vorgeworfen. Unter dem Eindruck des Mordvorwurfs und massiven Bedrohungen durch Polizeibeamte kommt zu Aussagen, Selbstbelastungen und die Belastung anderer. Im Dezember 1987 beginnt deshalb eine breit angelegte Aussageverweigerungskampagne (heute bekannt unter „Anna und Arthur halten das Maul“), die sowohl auf eine Verweigerung von Aussagen, als auch auf die Rücknahme belastender Aussagen zielt. Die Kampagne zeigt schnell eine große Wirkung und stoppt die Aussagen in der Szene. Die Frankfurter Rundschau schrieb dazu: „Auf das forsche Vorgehen der Fahnder – auch hunderte Wohnungen wurden durchsucht – reagieren Teile der Startbahnbewegung mit einer Schweigekampagne nach dem Motto „Arthur hält‘s Maul“. Im Prozess erwies sie sich als das größte Problem“ (FR vom 13.3.1991).

In den autonomen Strukturen wurde in den Tagen nach dem 2.11. auch über die Möglichkeit einer Tat eines „Agent provocateur“ diskutiert. Immer weitere ans Tageslicht kommende Details bestätigten aber, dass die Schüsse aus den eigenen Reihen abgegeben wurden. Innerhalb der autonomen und Alternativ-Szene finden nun teilweise heftige Diskussionen um das Militanzverständnis und die Fragwürdigkeit von Militanzritualen statt. Die Frage nach dem Unterschied herrschender Gewalt und linker „Gegengewalt“ kommt dabei auf‘s Tablett. Ein Teil der (ehemals) linken Alt-Spontis reagiert mit weiteren Absetzbewegungen hin zum Staat bzw. in die Partei der Grünen. In den meisten Stellungnahmen aus der autonomen und anarchistischen Bewegung wird die Mitnahme von Schusswaffen auf Demonstrationen abgelehnt und verurteilt. Andere lehnen den Schusswaffengebrauch auf Demos gegen „kleine Bullen“ als unsinnig ab, weil er die autonome Bewegung in isolierte, militärische Auseinandersetzungen treibe, die nur verloren werden könnten (z.B. Stellungnahme aus Westberlin).

Die Schüsse stellen, wie schon in der Einleitung erwähnt, eine Zäsur dar. Die autonomen Strukturen waren mit einer Vielzahl von Verhaftungen und einer langjährigen Anti-Repressionsarbeit konfrontiert. Die Militanzdebatte wurde, so eine These aus heutiger Perspektive, nie richtig zu Ende geführt. Grund genug, sich weiter mit der eigenen Geschichte zu befassen.

Zum Weiterlesen:

Wolf Wetzel: Tödliche Schüsse. Eine dokumentarische Erzählung (Unrast-Verlag Münster, 2008).

Veranstaltungshinweis:

Zu den Schüssen und den Folgen findet am Freitag, den 3. November 2017 eine Veranstaltung mit Zeitzeugen im Café Exzess in Frankfurt statt (Leipziger Straße 91, Beginn: 20:00 Uhr)