CORONA-Splitter: zum Erleben und Umgang mit den Maßnahmen

Ein globales Ereignis mit tiefgreifenden Wirkungen auf das Soziale, das Politische und die Wirtschaft – unmittelbar erlebbar in everybodys Alltag. Das ist unsere Generation wahrlich nicht gewohnt. Und obwohl es für alle Neuland ist, tun sich auch viele Linke leicht, schnelle, klare und scheinbar widerspruchsfreie Antworten zu geben „was nun zu tun sei“. Wir tun uns da schwerer. Die vielschichtigen und massiven Maßnahmen zur Eindämmung der globalen Pandemie lösen bei uns ambivalente Gefühle und Gedanken aus, denn es gibt viel zu viele Widersprüche in dieser Krise. Viele der staatlichen Maßnahmen begrüßen wir aus gesundheitspolitischer Perspektive, und dennoch nehmen wir den politischen Ausnahmezustand in seiner drohenden Gefahr extrem ernst und werden uns seiner Logik nicht unterwerfen. Und zudem wird, wie in jeder Krise, vieles plötzlich möglich, was bislang als absolut undenkbar galt. Im Negativen ebenso wie im Positiven.

Momentan dominieren die Sorgen der Mittelschicht, dessen symbolischer Ausdruck hier in der BRD die Hamsterkäufe von Toilettenpapier und Sagrotan war. Dabei ist klar, alle sind betroffen, aber nicht gleichermaßen gefährdet. Die größte Katastrophe droht in den Ländern des globalen Südens, in denen Gesundheitssysteme chronisch überlastet bis inexistent sind und die nicht intensivmedizinisch reagieren können. Die tatsächliche Katastrophe tritt ein, wenn das Virus die zahlreichen Camps und Lager erreicht, in denen zehntausende Migrant*innen eingesperrt und teils sich selbst überlassen werden. Bekanntermaßen auch unter der Verantwortung der EU vor den Toren Europas.

Angesichts dessen gehen uns die begrenzten Sorgen metropolitaner Linker manchmal schlicht auf die Nerven. Zudem auch hier im globalen Norden und konkret hier in Frankfurt das Virus und der Ausnahmezustand unterschiedliche soziale Gruppen unterschiedlich hart trifft und zunehmend treffen wird. Alleinerziehende deren finanzielle Existenz gefährdet ist und die gleichzeitig ihre Kinder nun 24 Stunden betreuen müssen und an den Rande ihrer psychischen Belastbarkeit kommen. Kinder die in Haushalten mit Tätern leben und nun massiver Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind ohne sich Hilfe holen zu können. Sie alle trifft diese Krise existenziell.

Insbesondere Gruppen, die seitens des Staates sowieso starken gruppenbezogenen Maßnahmen unterliegen, wie Geflüchtete, Gefangene, Drogenabhängige werden aktuell massiv isoliert, auf sich selbst zurückgeworfen und medizinisch sich selbst überlassen. Ihre sowieso schon beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten und öffentliche Repräsentanz wird massiv eingeschränkt und unterdrückt. So kommt es in vielen Ländern aktuell zu Knastrevolten, die allerdings kaum öffentliche Wahrnehmung erfahren. Ebensowenig wie die Bedingungen an den EU-Außengrenzen aktuell kaum Beachtung finden und Bullen, Militär und Küstenwache dazu animiert massenhaft mit Gewalt gegen Boote von Flüchtenden vorzugehen. Es wird schon jetzt sehr deutlich wer am Ende den Preis für diese Krise zu zahlen hat und wer von der nun andauernd von Politiker_innen in den Mund genommenen Solidarität profitieren wird. Die ausgerufene Solidarität von Söder, Steinmeier und Co ist verlogen und ganz sicher nicht die unsere.
Die Wirtschaftskrise wird sozialisiert werden und zu einem wirtschaftlichen und sozialen Abstiegsprozess ganzer Gruppen und Schichten führen, da wird uns im Nachhinein die aktuelle Sorge um ausreichend Klopapier und Mehl in der WG lächerlich erscheinen.

Die zeitweise Einschränkung des öffentlichen Lebens inklusive Einschränkung bzw. Außerkraftsetzung von Grundrechten erscheint angesichts der Corona-Krise in Teilen für viele Linke durchaus plausibel. Und andererseits verschließt die Logik des Ausnahmezustands dennoch linke und progressive Handlungsräume – sowohl ganz konkret in Form unserer Zentren als auch abstrakt in Form von nicht-möglichen Protestformen und der Schließung von Denkräumen. Vor allem die resolute und teils kafkaeske Durchsetzung der Staatsraison wie beispielsweise bei der Seebrückenaktion am 5.April zeigt, welche Tür ins Autoritäre sich geöffnet hat und wie über Generationen erkämpfte Rechte wie das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung auch hier gekippt werden können. Kollektive Gegenwehr, die immer auch eines direkten sozialen Austauschs bedarf, ist derzeit nur schwer vorstellbar.

Der staatliche Umgang basiert auf wissenschaftlichen Einschätzungen von wenigen Fachmenschen, und spätestens die Durchsetzung der Maßnahmen ist autoritär und nationalistisch geprägt: Die Schließung von Grenzen für Migrant*innen und ihre Konzentrierung in Lagern wird als Einschränkung zur Eindämmung des Virus verkauft, währenddessen zweihunderttausend Menschen mit deutschem Pass aus aller Welt eingeflogen werden. Die Grenzen werden geschlossen und grenzüberschreitende Arbeit, Beziehungen und Lebensweisen verhindert, aber 40.000 Saisonarbeiter*innen werden aus Osteuropa eingeflogen, um eine Missernte deutscher Agrarbetriebe zu verhindern. Deutscher Spargel vor Menschrenrechten. Es könnte absurder nicht sein. Zugleich fachen die wirtschaftlichen Maßnahmen der Europäischen Union – keine Euro-Bonds, dafür möglicherweie nationale und EU-Fonds, die die Solidarität zu Charity verkommen lassen, den Nationalismus überall an.

Mit der Krise öffnen sich aber auch Windows of Oppurtunities:

Die Ideologie des Neoliberalismus, der die letzten Jahrzehnte der Politik und Ökonomie dominiert hat, steht in der Kritik. Millionen erkennen, dass er den wirklichen Probleme der Menschen entgegensteht. Währenddessen alle Maßnahmen, die derzeit von Bundes- und Landesregierungen verkündet werden, das Ziel haben die Profitinteressen der Kapitalfraktionen – auf lange Sicht! – abzusichern.

Dem Leben und Überleben insbesondere als schwächer definierten Menschen wird nun auf der Ebene des Diskurses oberstes Primat eingeräumt, für das selbst eine massive Wirtschaftskrise in in Kauf genommen wird. Die Situation im Gesundheitssektor erzählt uns aber eine andere Geschichte: Im neoliberalen Wahn wurden unzählige Kliniken in viele Ländern kaputt gespart, Intensivbetten massenhaft abgebaut, Kliniken gar ganz geschlossen. Noch im vergangenen Jahr forderte die Bertelsmann-Stiftung in einer ihrer als „Studien“ verkauften Lobby-Forderungen, dass die Hälfte der noch vorhandenen Kliniken geschlossen werden sollte. Nun aber werden urplötzlich quasi über Nacht mal eben 3 Milliarden Euro in die Kliniken hineingepumpt. Also nachdem bestimmte Kapitalfraktionen sich im Abbau des Gesundheitssystems massiv bereichert haben, wird dies nun doppelt und dreifach von der Gesellschaft in Form von Steuern nachfinanziert. Ausbaden müssen es all die Ärzt*innen und Pflegekräfte, die trotz der Entlassungswellen der Vergangenheit ihren Job noch haben.
Dies ist eines der vielen Beispielen in denen gerade kognitiv wie lebensrealistisch Millionen von Menschen klar wird, welche Destruktivität im Neoliberalismus im Speziellen und im Kapitalismus im Allgemeinen innewohnt. Das jetzt das Leben von chronisch Kranken besonders gefährdet ist, ist auch auf diese langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems zurückzuführen. Millionen ist klar wenn kleine Krankenhäuser geschlossen werden, wenn Ärzt*innen übermüdet und überlastet sind, sterben Menschen. Oder es wird offensichtlich, dass Pfleger*innen extrem wichtige, sogenannte systemrelevante Positionen einnehmen und sich trotzdem keine Wohnung auf dem überhitzten Wohnungsmarkt einer beliebigen Großstadt leisten können. Hier bietet sich für die Linke an, soziale Forderungen zu unterstützen und mit utopischen Überschuss anzureichern.

Es wäre Wert, die schon ältere Idee des bedingungslosem Grundeinkommen wieder aufzunehmen. Denn ein solches könnte ein erster großer Schritt hin zu einer insgesamt solidarischen Wirtschaftsweise sein. Anstatt Menschen in prekären Lebenslagen mit Krediten „zu helfen“, die diese auch nach der Krise niemals wieder zurückzahlen können, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine gerechte und praktikable tatsächliche Hilfe für alle Menschen.
Eine andere ist unseres Erachtens die Ausrufung und Durchführung eines Mietstreiks, wie es in südeuropäischen Ländern teilweise praktiziert wird. Denn wer sich jetzt aufgrund von Verdienstausfalls die Miete nicht mehr leisten kann, wird in einigen Monaten die aufgeschobenen Mietschulden erst recht nicht tilgen können. Insbesondere die großen Wohnungseigentümer wie Deutsche Wohnen und Vonovia werden allerdings darauf drängen, um ihre bzw. die Gewinnerwartung ihrer Anteilshalter zu befriedigen. Konflikte, Zwangsräumungen und Verdrängungen sind vorprogrammiert für die es frames und Kampfformen braucht.

Um diese soziale Kämpfe zu führen, braucht es allerdings realen Kontakt zwischen Menschen, braucht es reale Präsenz auf der Straße – was uns durch die Maßnahmen erschwert wird. Daher müssen wir konkrete Antworten finden, wie wir trotz allen möglichen Ambivalenzen auf die staatlichen Maßnahmen reagieren: Wie gehen wir mit der faktischen und selbstbestimmten Schließung unserer Räume und Zentren um? Wie treffen wir uns in unseren Zusammenhängen – möglichst ohne dem Repressionsbehörden oder Google unsere Verbindungen offen zu legen und ohne dauerhaft Ausschluss zu produzieren? Wie gehen wir mit der faktischen Aussetzung politischen Ausdrucks im öffentlichen Raum um, die weit über den Infektionsschutz hinaus geht und faktisch legale Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum unterdrückt? Die Aktion der Seebrücke kann hier als ein erster regionaler Versuch gewertet werden, der nachfolgende Versuche verlangt. Wie ist unser Verhältnis zu Direkten Aktionen gerade im Spannungsfeld zwischen Versammlungsverbot, Kontaktverbot und stark erhöhter Bullenkontrollen? Uns erscheint es derzeit sinnvoll, die vielen kleinen Solidaritätsinitiativen zu unterstützen und mit politischen Forderungen zu verknüpfen.

Wie wollen wir leben?

Die breite Anerkennung der gesellschaftlich wirklich wichtigen Arbeit kann Ausgangspunkt dafür sein, den Arbeitenden zuzuhören und zu begreifen, wie Care-Arbeit anders organisiert werden sollte: In den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in der Produktion und Verteilung von Nahrung, bei der Müllentsorgung und in allen Feldern, in denen Care-Arbeit geleistet wird. Es stellt sich für alle die Frage, was wirklich wichtig ist. Dabei machen Millionen von Menschen die Erfahrung, dass sie ihre Arbeitgeber nicht vermissen und ihnen die Entschleunigung seelisch gut tut, das prekäre Erwerbsarbeit katastrophale Perspektiven erzeugen kann, eine Verbindung und Verantwortung aller zu allen besteht, das eine Reduzierung des Konsums ihnen weniger weh tut als die Reduzierung sozialer Kontakte, das systemrelevante Arbeiter*innen sich keine Miete leisten können, das unerreichbare Klimaziele plötzlich erreichbar sein könnten, das der Ursprung des Virus in der desaströsen Fleischindustrie liegt… u.v.m. Grundlegend besteht in dieser historischen Situation die Chance, aufgrund konkreter Erfahrungen einen kulturellen Paradigmenwechsel zu vollziehen, der fundamental bricht mit der selbstgerechten und überausbeuterischen Ideologie des „Nach-mir-die-Sintflut“-Neoliberalismus. Es erscheint möglich, die bestehende prekäre Erwerbssicherung von Milliarden Menschen durch die zwanghafte Teilnahme an einer schädlichen, global vernetzten und auf unbegrenztes Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsweise infrage zu stellen. Das massive ökonomische Ungleichgewicht und die Marginalisierung von großen Teilen der Menschheit gilt es aufzuheben, Erwerbssicherung und Arbeitsschutzrechte sowie kollektive Nutzungen von Ressourcen und soziale Rechte für alle Menschen global zu erkämpfen

Auf was sollten wir uns einstellen?

Nichtsdestotrotz müssen wir uns drauf einstellen, dass die Welt nach der Krise noch heftigere Verteilungskämpfe erleben wird, weil bestimmte Kapitalfraktionen gestärkter herausgehen werden, die soziale Schere sich noch deutlich zuspitzen wird. Dies auch vor dem Hintergrund, dass es auch Theorien gibt, die sagen, dass die Corona-Krise die Möglichkeit bietet, die sowieso bestehende kapitalistische Wirtschaftskrise abzuwickeln. Diese Krise wird nicht das Ende des Kapitalismus sein, aber sie wird mit Sicherheit die Parameter der Ausbeutung von Menschen über Menschen und über die Ressourcen des Planeten verändern.

Zudem stecken wir aktuell noch mitten in der Krise, in der natürlich weiterhin verschiedene politische und ökonomische Kräfte um Hegemonie ringen und es noch lange lange nicht ausgemacht ist, wer sich durchsetzt. Auch wenn sich insbesondere rechte und rechtsradikale Kräfte angesichts der Macht des Faktischen des Virus wenig positionieren können und insbesondere in der BRD auf Tauchstation sind, ist es nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft diese Kräfte erst recht erstarken. Denn angesichts drohender Rezension werden sich die vom Abstieg betroffenen Kapitalfraktionen mit Sicherheit autoritären, faschistoiden und kriegsbereiten Krisenlösungsstrategien zuwenden , so wie es historisch in allen großen Wirtschaftskrisen geschehen ist.

Aufgrund dieser und weiterer Einschätzungen muss jetzt für eine Welt nach Corona gekämpft werden. Das Falsche ist jetzt als Linke abzuwarten und auf ein buisiness as usual nach der Krise zu hoffen. Die Welt nach Corona wird eine andere sein als vorher – und deren Weichen werden jetzt gesetzt. Deshalb heißt es klug bleiben, sich nicht dumm und verrückt machen zu lassen und vor allem nicht zu verstummen. Neben der Aufgabe sich und andere konkret zu schützen, sich im Zwischenmenschlichen solidarisch zu verhalten, so gilt dies auch gesamtgesellschaftlich zu tun. Und gesamtgesellschaftlich kann in einer globalen Pandemie logischerweise nur global gedacht werden.

Freundeskreis „Eine andere Welt ist offenbar möglich“, 15.4.2020

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