Am 1.5.2017 kam es zu einem brutalen Überfall durch hessische Neonazis auf Jugendliche und junge Erwachsene im Nachgang einer rechten Demonstration. Die Täter_innen wurden anschließend durch antifaschistische Recherchestrukturen öffentlich gemacht. Den Artikel mit Fotos findet ihr auf drai.noblogs.org (Aryans – Die AngreiferInnen von Halle – Ein Überblick).
Im Zuge der aktuellen Berichterstattung über rechte Polizist_innen in Hessen kam außerdem ans Licht, dass die Freundin von einem der Täter, Carsten Müller, mit einem hessischen Polizisten via Whatsapp-Chat im Kontakt war, in welchem sensible Daten ausgetauscht wurden.
Der Prozess gegen die brutalen Angreifer_innen gleicht bisher einer Farce. Bereits im Vorfeld wurde deutlich, dass die Staatsanwaltschaft in Halle kaum gewillt, ist ein ernsthaftes Verfahren zu führen. So wird das Verfahren lediglich vor dem Amtsgericht geführt und nicht, wie üblich bei schweren Straftaten, vor dem Landgericht.
Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte dazu den lesenswerten Artikel „Wenn rechte Gewalt Normalität wird“. Für die Staatsanwaltschaft geht das agressive Verhalten „nicht über das hinaus, was bedauerlicherweise im Umfeld sogenannter politischer Veranstaltungen inzwischen üblich ist.“
Im folgenden ein Artikel vom Blog des Bundesarbeitskreis kritische Jurist_innen über die ersten Verhandlungstage:
Am 01. Mai 2017 mobilisierte die Partei „Die Rechte“ zu einer Nazi-Demonstration nach Halle (Saale), die jedoch erfolgreich blockiert werden konnte. Nun müssen sich anderthalb Jahre später zwei Mitglieder der Neonazigruppierung „Aryans“ vor dem LG Halle verantworten. Ihnen wird von der Staatsanwaltschaft Halle (StA) zur Last gelegt, im Anschluss an die Demo Antifaschisten und eine unbeteiligte Wandergruppe tätlich angegriffen zu haben (gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB). An jenem Tag sollen die Angeklagten mit zwei PKW unterwegs gewesen sein, in denen insgesamt 9 – 12 Personen saßen. Der Vorwurf lautet, zunächst in Halle-Ost gegen 14.30 Uhr aus einem fahrenden PKW heraus Fahrradfahrende mit Steinen beworfen zu haben. Der Angeklagte Carsten M. habe darüber hinaus kurze Zeit später am Holzplatz mit einem Starkstromkabel mehrfach auf ein Mitglied einer Maiwandergruppe eingeschlagen.
Nachdem zwei von sechs angesetzten Verhandlungsterminen am 10. und 11. Januar stattgefunden haben, geben wir einen ersten Zwischenbericht von unserer Prozessbeobachtung:
Der Prozess begann mit der Vernehmung von drei Zeugen, die zusammen mit den Angeklagten in den beiden PKWs saßen. Dabei zeichneten alle dasselbe Bild eines Bedrohungsszenarios. Ihnen zu Folge wurden sie in Halle-Ost von Antifaschisten auf Fahrrädern verfolgt und mit Steinen, einer Sektflasche und Böllern (Zitat: „[Das] waren auf jeden Fall keine deutschen [Böller]“) beworfen. Am Holzplatz seien sie dann von einer größeren Gruppe Antifaschist*innen angegriffen worden, wobei die Schätzungen zwischen 100 bis 2000 „Vermummten“ variierten. Unklar blieb inwieweit hierdurch auf eine Rechtfertigungssituation angespielt werden sollte. Allerdings war bemerkenswert, dass in Bezug auf bestimmte Situationen die Wortwahl der Zeug*inen nahezu identisch war. Auf Nachfrage verneinten sie zwar, untereinander oder zu den Angeklagten in Kontakt zu stehen. Die Aussagen wirkten jedoch insgesamt abgesprochen, wofür beispielhaft die in Zweifel gezogene Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten Müller stand. Dieser sei – von der Sektflasche getroffen – seiner „nicht mehr Herr“ gewesen. Möglicherweise wird die Verteidigung diese Schilderungen zum Anlass nehmen, um für eine verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) des Angeklagten oder zumindest eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung (§ 46 II StGB) zu plädieren.
Die beschriebenen Szenen deckten sich aber weder mit den Berichten der Betroffenen, noch mit einem von der Nebenklagevertretung eingebrachten Chatverlauf der Angeklagten Martina H., in dem es u.a. hieß: „Zecken verdroschen, […] Demo erfolgreich“.
Die Vorsitzende Richterin war sichtlich bemüht, aus den fragmentarischen Aussagen ein einheitliches Gesamtgeschehen zu ermitteln. Dabei ließ sie aber noch nicht erkennen, welche Schilderungen sie ihrer Beurteilung zugrunde legen würde. Auf die Widersprüchlichkeit der Aussagen mit den Unterlagen der Nebenklage ging die Kammer nicht ein.
Die Widersprüchlichkeit trat am zweiten Prozesstag bei der Vernehmung eines Begleiters der Angeklagten offen zutage, der während des Tatgeschehens in einem der PKW auf der Rückbank gesessen haben soll. Er schien weniger in die interne Gruppenstruktur der „Aryans“ eingebunden zu sein und wich mit seiner Aussage klar von jenen des Vortages ab. Nachdem am ersten Tag beispielsweise verneint wurde, dass es Sprechchöre wie „Ohne Bullen seid ihr alle tot“ gab, antwortete er: „Ja, alle haben das gerufen“. Die offenkundigen Abweichungen ließen auch die Vorsitzende der Kammer hellhörig werden. Irritiert hakte sie zum Beispiel nach, wie es überhaupt möglich sei, dass Fahrradfahrer zwei PKWs durch die Stadt jagen könnten.
Auch hinsichtlich der Gruppenstruktur der „Aryans“ gab der Zeuge aufschlussreiche Details preis. Am Vortag wurde diese noch als lose Gruppierung beschrieben, deren Gemeinsamkeit sich allenfalls in „zufällig“ gleichem Kleidungsgeschmack äußere. Dem Zeugen zufolge handle es sich jedoch um eine gut organisierte Gruppe, die als „Schutztruppe“ auf verschiedenen Demos deutschlandweit auflaufe. Das beschriebene Maß an Organisation deckt sich mit aktuellen Berichten, wonach auch der Generalbundesanwalt beim BGH wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) gegen die „Aryans“ ermittelt.
Viele der Erkenntnisse rund um die politische Tatmotivation und die Gruppenstruktur der „Aryans“ sind nicht deshalb zu tage getreten, weil die StA ein gesondertes Interesse an einer umfangreichen Aufarbeitung zeigt. Der Staatsanwalt besticht allein durch seine körperliche Anwesenheit. Vielmehr sind diese einer aktiven Nebenklage zu verdanken, die die Funktion der StA an den ersten Verhandlungstagen quasi übernommen hat. Die Passivität der StA ist vielleicht auch der Grund, weshalb die Richterin der Nebenklage Raum lässt, um den Prozessverlauf mitzugestalten. Gerade Prozesse wie dieser, bei dem eine politische Tatmotivation seitens der StA offensichtlich verkannt wird, zeigen einmal mehr die Bedeutung einer aktiven Nebenklage. Vor diesem Hintergrund sind aktuelle politische Bestrebungen, ihre Partizipationsmöglichkeiten einzuschränken, äußerst kritisch zu beurteilen.
Interessant wird es, bei den nächsten Verhandlungsterminen zu beobachten, inwieweit sich die Widersprüche der Nazi-Zeugen verdichten. Je nachdem liegen verschiedene Möglichkeiten nahe, wie das Gericht oder auch die StA hierauf reagieren könnten. Eine erneute Vernehmung der Zeugen des ersten Verhandlungstages, ggf. unter Vereidigung, erscheint ebenso denkbar, wie die Einleitung eines Strafverfahrens wegen uneidlicher Falschaussage (§ 153 StGB). Inhaltlich bleibt weiterhin offen, ob sich noch zusätzliche Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit der bislang nur als Zeugen vernommenen Insassen der PKW im Hinblick auf die Angriffe in Halle-Ost ergeben. In Betracht kommen nach wie vor eine mittäterschaftliche Beteiligung (§ 25 II StGB) oder zumindest eine Teilnahme in Gehilfenform (§ 27 I StGB). Ob die StA hierauf drängen wird, erscheint nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung jedoch eher fraglich.
Darüber hinaus könnten die von der Nebenklage aufgeworfenen Verstrickungen der Angeklagten mit der zurzeit in der Kritik stehenden hessischen Polizei dem Verfahren eine neue Dimension geben. Hinzu kommen Andeutungen der Nebenklage, wonach im PKW der Angeklagten auch ein Polizeibeamter saß.
Hinweis: Interessierte sind eingeladen, am öffentlichen Prozess teilzunehmen, um so auch für die Betroffenen eine möglichst solidarische Atmosphäre im Gerichtssaal zu bewirken.
Weiter geht es am 24.01. um 9:30. Wir empfehlen, etwas vorher zu kommen, da Kontrollen am Einlass stattfinden.