In den Medien wurde der G20-Gipfel recht bald vom „Diesel-Gipfel“ abgelöst und die Euphorie über die Tage in Hamburg ist schnell einer gewissen Ernüchterung gewichen – als Folge des alltäglichen Wahnsinns wie dem linksunten-Verbot und den Wahlerfolgen der AfD. Wir werden die Tage in Hamburg trotzdem in unseren Herzen behalten und unsere Erfahrungen mitnehmen in kommende Auseinandersetzungen. Nach Hamburg haben wir die Tage dort gefeiert, kritisiert, uns gestritten, diskutiert und haben noch viele offene Fragen. Ein Zitat aus dem Text „Freude schöner Götterfunken“ bringt eine davon gut auf den Punkt: „Die Rauchzeichen, die in jüngster Vergangenheit in Europa sichtbar wurden (2015 Eröffnung der EZB in Frankfurt, EXPO-Eröffnung in Mailand, 2016 Loi de travail in Frankreich) zeigen auf, wie metropolitane Kämpfe bei Großereignissen heutzutage perspektivisch aussehen können: Bei internationaler Mobilisierung werden erneut Teile der martialisch besetzten Großstadt brennen. Dies allein wird aber nicht garantieren, dass sich wieder Teile der Deklassierten unseren Kämpfen anschließen werden. (…) Inwieweit werden wir als organisierte Strukturen in Zukunft in der Lage sein, in ähnlichen Momenten eigene Impulse zu setzen? Hätten wir in Hamburg mit 200 Leuten etwa einen relevanten Teil weiterer Menschen motivieren können, mit uns in Richtung Rote Zone oder zur Bullenwache in der Stresemannstraße zu gehen?“ Daran schließt sich die Frage an uns an, was mit einem durch den Riot entstandenen Vakuum dann passieren soll und kann. Und eine ganz andere Frage ist natürlich, was das Erlebte abseits derartiger Großereignisse für unsere Alltagskämpfe eigentlich für eine Bedeutung hat.
Die Mythen der Polizei
Viele Behauptungen sind inzwischen wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen: das Märchen vom Angriff auf die Polizei im Rondenbarg, der angebliche Hinterhalt Freitagnacht, der zum Einsatz des SEK im Schanzenviertel führte. Anders als die Polizei behauptet, „vereinzelt würde an der Ernsthaftigkeit der Lage am Freitagabend gezweifelt“ werden, glaubt außer denen sowie Olaf Scholz und Konsorten niemand daran. Auch der bezifferte Schaden, für dessen Entschädigung ein Fond von 40 Millionen Euro bereitgestellt wurde, entpuppte sich als weit geringer als vorher behauptet. Derzeit wird angenommen, es bleibe bei „einem „mittleren einstelliger Millionenbetrag“. Viele Gewerbetreibende aus den Vierteln kritisieren derweil, dass für ihren Verdienstausfall aufgrund des Gipfels kein Anspruch auf Entschädigung besteht. An den Märchen wird trotzdem festgehalten, sie werden Teil der herrschenden Erzählung über den G20, die unter anderem die Aufrüstung im Namen der „Inneren Sicherheit“ und Kampf gegen linksradikale Positionen legitimieren soll.
Wir sind nicht alle,
es fehlen die Gefangenen
Dem ersten Prozess in Hamburg mit einer überhöhten Strafe als politisches Urteil für einen Aktivisten folgten zunächst mehrere Prozesse gegen Personen, die unsolidarische Aussagen, Distanzierungen und Entschuldigungen für richtig hielten – das half ihnen aber nichts, sie erhielten ebenfalls hohe Strafen. Aktuell laufen drei Prozesse gegen Genossen aus dem Ausland. Vor allem Personen ohne deutschen Pass saßen und sitzen weiterhin in Hamburg ein, bei ihnen haben es die Repressionsbehörden besonders leicht, ihnen „Fluchtgefahr“ zu unterstellen. In den aktuellen Prozessen gegen Aktivist*innen werden die Anwält*innen auf vielfältige Weise an ihren Tätigkeiten behindert, eine Anwältin erhielt etwa eine Zahlungsaufforderung von 600€, weil sie eine angeblich „überflüssige“ Verfassungsbeschwerde gegen die seit Anfang Juli andauernde U-Haft ihres Mandanten stellte. Befangenheitsanträge sind daher aktuell the state of the art.
Der Diskurs um G20 ist inzwischen derart populistisch und reaktionär, dass es sogar in einem Beitrag des NDR – einem linker Positionierung eher unverdächtigen Sender – heißt: „Der Diskurs um G-20-Täter scheint in Hamburg so weit von jeglicher Rationalität abgedriftet zu sein, dass man ganz grundsätzliche Dinge in Erinnerung rufen muss: Fabio V. ist keine Krake, sondern ein Mensch. Es mag schwer fallen, es zu glauben, aber wer genau hinsieht, wird in Hamburg derzeit Zeuge der Entmenschlichung eines Angeklagten. In Deutschland, und gerade auch in der Hamburgischen Justiz, müsste man dieses Phänomen aus der Geschichte kennen. Träfe die Behauptung zu, dass man aus der Geschichte gelernt habe, müsste es jetzt gerade auch „in der Bevölkerung“ mehr Empörung geben.“
Wir lassen uns nicht
einschüchtern!
Akteur der Repression gegen G20-Gegner*innen ist auch die Postbank, die jüngst ohne Begründung das Konto des Hamburger Ermittlungsausschuss (EA) gekündigt hat. Es ist zu vermuten, dass die Postbank nicht ganz selbständig handelte – man erinnere sich, dass im Rahmen des G20 sogar Klohausverleiher, Campingplätze und Hostels staatlicherseits aufgefordert wurden, den Protest nicht zu unterstützen.
Am 27.9. fanden Hausdurchsuchungen in 14 Wohnungen sowie in Läden in Hamburg und Schleswig-Holstein statt. Die 180 Beamten umfassende SoKo „Schwarzer Block“ stellte einige iPhones sicher, die meisten in Privatwohnungen, eines in einem Handy-Laden in Wilhelmsburg. Möglich war dies mit der in den iPhones eingebauten Tracking-Option, die einige der neuen Besitzer*innen offenbar nicht kannten. Beifang der Razzien waren Verstöße wegen Drogen- und Waffenbesitz. Die Polizei muss allerdings eingestehen, bislang nur „Gelegenheitstätern“ auf die Spur gekommen zu sein, mit ihrer Suche nach „Verantwortlichen“ für den Freitagabend fischt sie aber im Trüben. Die vollmundige Ankündigung von SoKo-Chef Hieber, dass „viele Straftäter, die sich im Augenblick sicher wähnen, noch eine Überraschung erleben werden“ ist daher als plumper Einschüchterungsversuch zu werten, von dem wir uns nicht verunsichern lassen sollten. Insgesamt sollen 2.000 Ermittlungsverfahren laufen – „vom Steinwurf bis zur Brandstiftung“, davon 319 Ermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Personen, u.a. Andreas Beuth und Andreas Blechschmidt aus der Roten Flora sowie Emily Laquer von der interventionistischen Linke. Konkrete Tatvorwürfe und Beweise zählen indes wenig, linke Organisierung ist das Stigma, dessen Verteufelung derzeit immer weiter um sich greift.
Mit den 25.000 Videos aus öffentlichen Überwachungskameras und 7000 eingegangenen Hinweisen über die Onlineplattform der Polizei sind aber so viele Daten verfügbar, dass sie nicht einzeln angesehen werden können. Wir erinnern uns: Nach er EZB-Eröffnung waren einige Beamtinnen ein Jahr lang damit beschäftigt, Videos und anderes Material zum Thema zu sichten. Abhilfe soll für Hamburg eine automatisierte Gesichtserkennungssoftware schaffen sowie die Auswertung von Geodaten, um Bilder und Videos von ähnlichen Orten und Zeiten aufzuspüren.
Von diesen Ermittlungen betroffen werden vermutlich vor allem diejenigen sein, die spontan die Gelegenheit nutzten, sich bei den Plünderungen in der Schanze zu bedienen oder sich hinreißen ließen, Flaschen zu werfen und sich dabei zu wenig um adäquate Vermummung und anwesende Handykameras scherten.
Polizeigewalt gab es in Hamburg von offizieller Seite weiterhin nicht – die ersten Ermittlungen gegen Beamtinnen wurden bereits wieder eingestellt. Wer dagegen nur ein kleines bisschen Verständnis für die Aktionen am Freitagabend äußert oder sich gar positiv darauf bezieht und Kritik an der Polizei äußert, wird direkt als „Gewalttäter“ diffamiert, so geschehen mit Beuth und Blechschmidt von der Roten Flora. Diese Abgrenzung vollzieht sich teilweise bis in die radikale Linke hinein mit Forderungen nach Distanzierung. Protest hat ausschließlich friedlich zu sein, doch wer bestimmt, was als „Gewalt“ gilt und was angemessen ist?
Wenn, wie auf der Frankfurter Buchmesse, die Störung einer rechten Veranstaltung mit einem Banner und mit antifaschistischen Parolen vereinzelt bereits als Gewalt deklariert wird, ist es höchste Zeit, dass nicht nur Beteiligte des Schwarzen Blocks mal eine Gewaltdebatte führen – wie dies so oft als Forderung aufkommt. Die sich ausbreitende Auffassung, Proteste seien nur dann als Erfolg zu werten, sofern sie „friedlich“ verlaufen sind, gilt es infrage zu stellen.