Hessen schiebt ab!

Kaum zehn Tage nach der letzten Demo am Frankfurter Flughafen fand der vierte Abschiebecharter nach Afghanistan statt, an Bord 15 statt der geplanten 50 Personen. Wie beim letzten Mal startete der Flieger von München aus und wie im vergangenen Monat war auch Hessen an dem Abschiebeflug beteiligt. 
Afghanistan nimmt im Vergleich mit anderen Zielen einen der hinteren Plätze ein: Bundesweit wurden im vergangenen Jahr insgesamt knapp 23.886 Abschiebeflüge durchgeführt (plus 3.968 Dublin-Rückschiebungen), bei mehr als der Hälfte war das Ziel Albanien, der Kosovo, Serbien und Mazedonien. Hessens Anteil daran waren 1.723 Abschiebungen. 

Widerstand

Die Bundesregierung hatte mit dem Afghanistan-Abkommen auf ein Fanal zu Massenabschiebungen gehofft, doch der Widerstand ist groß. „Afghanistan ist nicht sicher“, das wissen inzwischen außer der Bundesregierung fast alle. Das lässt hoffen, dass die Afghanistan-Abschiebungen in den kommenden Monaten durch verstärkten Druck vielleicht gar gänzlich aufgegeben werden. Wie zuvor war der Flieger nicht so voll wie geplant, da sich viele der Abschiebung schon vorher entziehen konnten oder sie durch rechtliche Intervention im letzten Moment verschont wurden.

Der Widerstand gegen Abschiebungen hat vielfältige Gesichter. Bundesweit mussten im vergangenen Jahr 263 Abschiebungen abgebrochen werden, weil sich Menschen im Flugzeug ihrer Abschiebung widersetzten, 110 mal geschah dies im Frankfurter Flughafen. 

Widerstand heißt auch, nicht allein mit einem negativen Bescheid zu bleiben, sondern sich mit anderen zu organisieren, heißt auch die solidarische Unterstützung von Geflüchteten, ihre Versorgung mit rechtlichen Informationen und der finanzielle Support, um rechtlich gegen einen negativen Bescheid vorzugehen. Widerstand ist zudem die Bereitstellung von Schutzräumen, auch kurzzeitig. So werden u.a. die Themen Kirchenasyl, Zuflucht und die Vision einer „Solidarischen Stadt Hanau“ etwa am 30. April im Rahmen der Konferenz „Solidarität statt Spaltung“ in Hanau diskutiert.
Widerstand bedeutet schließlich auch, die Profiteure des Abschieberegimes und die Rassismen deutscher und europäischer Migrationspolitik klar zu benennen.

Grüne Partei – Abschiebepartei!

Ein dreimonatiger Abschiebestopp als kleinste Lösung zeichnet sich in Hessen unter Schwarz-Grün derzeit nicht ab. Anfang März wurden die Grünen in Frankfurt bei ihrem „politischen Aschermittwoch“ besucht. Das Grünen-Motto „beim Aschermittwoch kriegt der politische Gegner traditionell sein Fett weg“ nahmen die Besucher*innen ernst: Zu Beginn des Fest-Programms stürmten sie vor das Redner*innenpult mit der Aufforderung, sich doch wenigstens für den dreimonatigen Abschiebestopp einzusetzen, wie dies derzeit Schleswig-Holstein vormacht. Die Grüne Partei, die sich gern migrationspolitisch progressiv gibt, befürwortet allerdings die Abschiebung von „Straftätern“ nach Afghanistan sogar und ruht sich ansonsten darauf aus, dass die Bundesregierung die Sicherheitslage in Afghanistan doch neu überdenken möge. 
Abschiebungen mit „Straftätern“ zu legitimieren, ist jedoch hochgradig scheinheilig, wird aber von den Medien durchweg unkritisch reproduziert. Denn anders als oft dargestellt, sind längst nicht alle abgeschobenen Afghanen Straftäter, so waren von 14 Personen aus Hamburg, die im Abschiebeflieger vom Dezember sitzen sollten, lediglich drei verurteilt, wie eine Anfrage an den Hamburger Senat ergab. Und im Abschiebeflieger vom Januar saßen laut Pro Asyl zum Großteil nicht straffällig gewordene Menschen. Auch wird die Schwere des Delikts in den Medien nie hinterfragt. Als Straftäter gilt etwa bereits, wer sich in Abschiebehaft befindet. Und haben nicht auch Straftäter und Kleinkriminelle das Recht auf Unversehrtheit? Für sie ist die Lage in Afghanistan ebenso unsicher – ist ihr Leben weniger wert? Mit der Aufteilung in „gute“ und böse“ Geflüchtete sowie in „Wirtschaftsflüchtlinge“ und solche „mit guter Bleibeperspektive“ wird also ganz gezielt populistische Politik gemacht.

Frankfurt Airport. 
Hessens Tor zur Welt 

Dieses Motto der Fraport könnte zynischer nicht sein: Im letzten Jahr war der Frankfurter Flughafen mit über 5.452 Abschiebungen Abschiebeflughafen Nr. 1. Die Hälfte davon ging in die Westbalkanstaaten. Abschiebeflüge finden über den Flughafen Frankfurt 1?–?2 Mal wöchentlich statt. Mindestens ebenso oft werden auch Sammelcharter für sog. „freiwillige Ausreisen“ durchgeführt.
Waren früher Airlines wie Lufthansa für Abschiebungen berüchtigt, haben diese aus Imagegründen das Geschäft nun an weniger bekannte Charter-Airlines, wie Travel Service, Trade Air oder – wie im Fall der Afghanistan-Abschiebungen – Meridiana, abgegeben. Diese haben an deutschen Flughäfen oft nicht einmal Schalter oder Büros und sind daher schwerer angreifbar. Anders Air Berlin, mit Schaltern an diversen Flughäfen. Als Spitzenreiter im Abschiebegeschäft verdiente Air Berlin an den Abschiebungen allein im letzten Jahr übrigens über 2 Mio. Euro. Diese Airline hat zudem ein Codesharing-Abkommen mit Meridiana, d. h. Air-Berlin-Destinationen werden teilweise von Maschinen von Meridiana übernommen. 

Profitieren von der Angst

Da Abschiebungen inzwischen gewöhnlich unangekündigt stattfinden, betreffen sie einen großen Kreis von Menschen und längst nicht nur diejenigen, die am Ende tatsächlich abgeschoben werden. Denn die Drohung einer möglichen Abschiebung hängt über vielen Menschen wie ein Damoklesschwert und führt zu vielen Ausprägungen von Angst. Meist ist ein normales Alltags-Leben für diese Menschen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Im Zuge der Abschiebungen am 27. März wurden ein Selbstmord und zwei Selbstmordversuche von afghanischen Männern bekannt. 
Das schlechte Image der Abschiebungen und die dabei anfallenden Kosten haben die Bundesregierung längst veranlasst, ein anderes Konzept zu verfolgen, das besser klingt und sogar mit humanitärem Anstrich verkauft werden kann: Die „freiwillige Ausreise“. Mit der Angst vor Abschiebung arbeitet der deutsche Staat ganz gezielt, denn die Abschiebungen sind nötig, um freiwillige Ausreisen durchzusetzen: So sagt ein Landesbeamter in Hessen: „Wenn ich das Druckmittel der Abschiebung nicht habe, reist mir keiner freiwillig aus.“ Das heißt im Klartext: Gäbe es keine Abschiebungen, würde auch das Konzept der freiwilligen Ausreise scheitern.
Das perfide System der sogenannten „freiwilligen Rückkehr“ war mit 55.000 im letzten Jahr bereits um mehr als doppelt so hoch wie die Abschiebezahlen, und dabei sind allein diejenigen gezählt, die über die REAG/GARP-Programme gefördert wurden. Hier rangieren wie bei den Abschiebungen die Balkanstaaten Albanien, Kosovo und Serbien ganz oben. Zudem wurden allein 6.000 Menschen letztes Jahr freiwillig in den Irak ausgereist. 
Geldprämien mit dem Namen „Starthilfe plus“ sollen den Start im Abschiebeland erleichtern und offiziell wird verlautbart, dass auch „in der Heimat“ für Betreuung gesorgt ist. Damit gibt es in den Westbalkanländern bereits viele Erfahrungen: Rückkehrer in den Kosovo berichten, sie seien von deutschen Ausländerbehörden über für sie zur Verfügung stehende Hilfen falsch „informiert“ bzw. unter Hinweis auf – tatsächlich nicht vorhandene – Unterstützung vor Ort zur Rückkehr „überredet“ worden. 
Den Vertrag zum Unterschreiben erhalten Asylbewerber*innen direkt bei der Erstanhörung. Bereits bevor über ihren Antrag entschieden wird erhalten sie erste Beratungen, in denen bei negativem Bescheid die Abschiebung oder Rückkehr in Aussicht gestellt wird. Eine ergebnisoffene Beratung findet nicht statt. An dem Konzept ist also nichts freiwillig, sondern Abschiebungen werden als „freiwillig“ deklariert. 

„Hessens Kurs ist die konsequente Aufenthaltsbeendigung“

Hessen organisierte im letzten Jahr 1.872 „freiwillige Ausreisen“, die wirkliche Zahl dürfte aber mindestens dreimal so hoch sein, da geförderte Ausreisen aus Landesmitteln nicht offiziell erfasst werden. Hessen organisiert nämlich vornehmlich Sammelcharter ohne die Geldprämien der Rückkehrprogramme. Laut einer frisch erschienenen Studie vom „Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ muss Hessen aber noch besser werden: „In den meisten Bundesländern lag die Zahl der über REAG/GARP geförderten selbständigen Ausreisen 2015 über der Zahl der Abschiebungen – nur in Hessen (…) war das Verhältnis umgekehrt.“ Die Studie gibt „Handlungsempfehlungen“ für die Bundesregierung und zugleich Einblicke in die Abgründe rassistischer Politik und Forschung: in den dort zitierten Interviews reden einige hessische Landesbeamte nämlich Klartext. So heißt es dort: „Das hessische Bestreben sei, „so viele Personen als möglich rauszuschaffen, (…) egal auf welchem Weg“, weshalb man von „Ein­zelabschiebungen“ zu „Massenabschiebungen“ übergegangen sei.“
Bei einer Ablehnung wird auf das Recht auf Widerspruch oft nicht hingewiesen und stattdessen direkt die Rückkehr besprochen, bei fehlender Kooperation folgt die Abschiebung. So heißt es aus Hessen: „Wann eine Abschiebung konkret eingeleitet wird, entscheiden also die Mitarbeitenden der Regierungspräsidien: „Das heißt sobald die Akten vollziehbar sind, habe ich sie dummerweise auf dem Schreibtisch und ich muss dann entscheiden, laufe ich denen jetzt noch dreimal hinterher oder wird der abgeschoben“, oder: „Das heißt die Leute hatten ihre Ausreisefrist – eine Woche – und wer nicht ausgereist ist, da besteht kein Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde nochmal Kontakt mit ihm aufnimmt. Also das sind Fälle, die werden auf die Abschiebecharter gleich eingebucht“.
Eine ergebnisoffene Beratung ist dagegen nicht im Sinne der Behörden: „Die Beratung erfolgt mit dem Druckmittel der Abschiebung, die in Aussicht gestellt wird“. An anderer Stelle heißt es „Nichtstaatliche Akteure aktiv in die Rückkehrberatung einzubeziehen sei nicht geplant, da diese in eine andere Richtung „gepolt“ seien und nicht im staatlichen Interesse beraten würden“.
Erst Ende März beschloss die hessische Landesregierung ein neues Beratungsprogramm (Kosten 1 Mio. €), damit abgelehnte Asylbewerber Hessen schneller verlassen. 170 pensionierte Polizeibeamte sollen u.a. im Ankunftszentrum in Gießen Geflüchtete informieren und die Ausländerbehörden unterstützen. Das Programm richtet sich „auch an Menschen, die aus freien Stücken wieder in ihre Heimat wollen.“
Hessens „freiwilligen Rückreisen“ finden von Frankfurt Airport (sowie Kassel-Calden und Frankfurt-Hahn) in jeweils 1?–?2 wöchentlichem Turnus statt und werden mit denselben Abschiebe-Airlines durchgeführt. Sie lassen sich jeweils dafür „einen mittleren fünfstelligen Betrag“ (FNP) bezahlen. 
Nicht nur der Widerstand gegen Abschiebungen muss also auf unserer Agenda stehen, sondern ebenso die als „freiwilligen Ausreisen“ betitelte angeordnete Rückkehr unter Zwang, denn sie besitzt inzwischen einen weitaus größeren Stellenwert und die Tendenz ist steigend. „Freiwillige Ausreisen“ finden weitgehend unbemerkt von der öffentlichen Aufmerksamkeit statt und betreffen viele. Kratzen wir also gemeinsam an dem Image dieser als human getarnten Abschiebungen und organisieren zudem Gegeninformationen für Betroffene!