Fünf Jahre ist es jetzt her, dass in Eisenach ein Wohnmobil und in Zwickau eine Wohnung ausbrannte in denen jeweils jede Menge Waffen gefunden wurden. In Eisenach die Waffe mit der eine beispiellose, jahrelange Mordserie an Migranten begangen wurde. Im Brandschutt in Zwickau die Waffe, die der ermordeten BFE-Polizistin Michelle Kiesewetter in Heilbronn 2007 entwendet wurde. Fünf Jahre ist es jetzt her, dass bundesweit mehrere Adressen die Paulchen-Panther-CD zugesendet bekamen, auf der sich eine terroristische Neonazi-Gruppe zu mehreren Morden und zu Sprengstoffanschlägen bekannte. Fünf Jahre ist sie her – die Selbstenttarnung des NSU.
Wir haben uns entschieden einen Schwerpunkt dieser Ausgabe dem NSU-Komplex einzuräumen. Weniger um uns dem notwendigen und berechtigten Gedenken an die vielen direkten und indirekten Opfer zu widmen. Da möchten wir an dieser Stelle auf die Initiativen „Keupstraße ist überall“ und „6. April“ verweisen. Sondern, um an dieser Stelle noch mal genauer auf den Charakter der sogenannten staatlichen Aufklärung zu schauen – die alles andere als eine Aufklärung ist.
Denn die angeblichen Aufklärungsbemühungen der NSU-Morde, also die öffentlich gewordene Ermittlungsarbeit der Polizei, der Gerichtsprozess in München und die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zeigen überdeutlich, dass die Staatsräson alle Bemühungen nach Hintergründen, Umständen und Konsequenzen des Neonazi-Terrors überdeckt: Ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes kann in Kassel daneben sitzen, als am 6. April 2006 Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen wird. Es können 42 V-Leute im NSU-Umfeld tätig sein und hunderttausende Euro Spitzellohn in die Szene pumpen. Es können Verfassungsschutzbehörden mit aktivem Schreddern von Akten und offenem Widerstand gegen Kontrollorgane des Staates die Aufklärung behindern. Es können mehrere ZeugInnen, teils in Zeugenschutzprogrammen, unerwartete Tode sterben.
Und Konsequenzen?
Ja, es gibt Konsequenzen: Mehrere Behördenleiter mussten bekanntermaßen frühzeitig in den gutbezahlten Ruhestand eintreten. Dafür rücken die damals operativ Verantwortlichen beim Verfassungsschutz in die Führungsposition auf. Die Geheimdienststruktur hat sich verjüngt und geht gestärkt aus dem Ganzen hervor. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erhält zusätzliche Rechte, knapp 300 neue Planstellen und 17 Millionen Euro Etatzuwachs sowie einen zweiten Vizedirektor mit Besoldungsstufe B6. Die Straflosigkeit bei der Begehung von Verbrechen im Dienst wird auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Eine bundesweite Abschaffung des V-Leute-Unwesens und stärkere parlamentarische Kontrolle der Dienste? Fehlanzeige!
Den in den NSU-Komplex verwickelten MitarbeiterInnen des VS garantiert der Verfassungsschutz professionell und kreativ Straf- und Verantwortungslosigkeit. Im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex wurden lediglich drei Disziplinarverfahren eingeleitet, aber 57 Beförderungen von MitarbeiterInnen im Bereich Rechtsextremismus vorgenommen. Eine Disziplinarverfahren gegen Andreas Temme wurde erst auf öffentlichen Druck eingeleitet, obwohl der beim Kasseler Mord zur Tatzeit am Tatort war, Täterwissen geäußert und nachweislich gelogen hat, also entweder selbst geschossen oder Verbindungen zu den Mördern hat. Andreas Temme wird von ehemaligen Vorgesetzten aktiv gedeckt, ist immer noch Beamter im Innendienst und bezieht weiter seine Bezüge.
Andere V-Mann-Führer profitieren regelrecht von den umfangreichen Aktenschredder-Aktionen und dem Schweigen der Verantwortlichen. Weil sie im richtigen Moment zu schweigen wissen, retten sie die eigene Karriere, und die vieler KollegInnen. Quellenschutz ist auch Selbstschutz.
Wie konsequent sich die verdeckende Staatsräson auf alle Aufklärungsbemühungen legt, zeigen auch jüngste Ereignisse: So wurden durch Bundesanwälte Teile von Akten und möglichen Beweismittel vernichtet – also durch die anklagende Behörde selbst. Die BAW hat auch seit mindestens Oktober 2014 verschwiegen, dass sie wusste, dass die VS-Akten nicht durch Zufall, sondern vorsätzlich vernichtet wurden. In einem vor kurzem aufgetauchten, ursprünglich nicht-öffentlichen Bericht gesteht die zentrale Figur der großen Schredder-Aktion gegenüber der BAW ein, die Akten vorsätzlich vernichtet haben zu lassen, (um sich unangenehme Fragen zu den V-Leuten im Umfeld des Trios ersparen zu müssen.) Obwohl damit der Vorsatz des Verdeckens und der Rechtsbruch deutlich wird, geschieht nichts. Ein öffentliches Infragestellen des Begriffs der Pannenserie, sowie investigative Fragen und Forschungen zur Motivation der Geheimdienste bleibt auf journalistische Einzelpersonen und Initiativen beschränkt.
Der VS als Existenzgründerhilfe für Nazi-Start-Ups
Wir gehen davon aus, dass die aktive Rolle des Verfassungsschutzes beim Aufbau rechter Strukturen auch innerhalb der autonomen Linken unterschätzt wird. Dazu an dieser Stelle noch einige Beispiele zum Verdeutlichen der Verzahnung zwischen militanten Neonazis und der Strukturhilfe durch VS-Mitarbeiter.
Zwischen monatlich 300 und 1250 Euro zahlte der Verfassungsschutz an Spitzel in der Neonazi-Szene. Die Zahlungen werden in der Regel bar und steuerfrei geleistet, die LfV selbst führen 10% der „Prämiensumme“ an die Finanzkassen der Länder ab. Eine lukrative Einnahmequelle für Nazis, die damit Propagandamaterial, Webseiten, Kameradschaften, Naziläden, Reisen und private Unternehmen finanzieren – und vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt werden. Einige wenige prominente Beispiele:
Zum Beispiel Kai Dalek, einflussreicher Neonazi in Süddeutschland war seit 1987 Mitarbeiter des bayerische Verfassungsschutzes, zuvor soll er in West-Berlin die linke Szene ausgespäht haben. Bis 1998 zahlte ihm das bayerische LfV 800 D-Mark monatlich – plus Ausgaben für den Aufbau des Thule-Netzes, die erste Internetbasierte Kommunikationsplattform für deutsche Neonazis.
Zum Beispiel Tino Brandt, »organisatorischer Kopf« der neonazistischen Organisation ›Thüringer Heimatschutz‹, wurde von seinen V-Mann-Führern vor Razzien gewarnt und auf Hausdurchsuchungen vorbereitet. Er investierte sein Honorar von insgesamt bis zu 200.000 D-Mark in den Aufbau der Neonazi-Szene. Kommentar des NPD-Vorstandsmitgliedes Thorsten Heise: „Schön zu wissen, dass der Verfassungsschutz die nationale Bewegung in Thüringen aufgebaut hat. Das ist schon… ja… sehr cool.“ Norbert Wießner, der Tino Brandt ursprünglich angeworben hatte und der zeitweilig auch erwog, Beate Zschäpe als V-Person anzuwerben, genießt seinen Lebensabend heute als Pensionär.
Zum Beispiel Carsten Szczepanski, wurde als V-Mann Piatto vom Brandenburger LfV geführt. Wegen versuchten rassistischen Mordes saß er in der JVA Brandenburg ein, wo er mit Wissen des VS rassistische und antisemitische Nazi-Fanzines herstellte und vertrieb, eines davon enthielt einen Gruß an den NSU. Seine V-Mann Führer, u.a. Gordian Meyer Plath, kümmerten sich rührend um ihn, holten ihn von der JVA ab, fuhren ihn mit dem Auto zu Neonazitreffen und -konzerten. Er kassierte pro Treffen 300 DM und somit über die Jahre insgesamt etwa 50.000 DM, genau die Summe, die er seinem Opfer, Steve Erenhi, der nur knapp einen Lynchmord durch Piatto überlebte, an Schmerzensgeld schuldig ist.
Sein V-Mann Führer, der erwähnte Gordian Meyer-Plath, verdient ebenfalls genauere Beachtung:
Zum Beispiel Gordian Meyer-Plath, gab Hinweise auf die Bewaffnung von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt 1998 erst gar nicht an die Strafverfolgungsbehörden weiter. Der Brandenburger Verfassungsschutz verhinderte die Weitergabe noch, als andere Landesämter schon längst das Thüringer LKA informieren wollten. Nach zwischenzeitlicher Tätigkeit für die Bundestagsabgeordnete Katharina Reiche (CDU) und anschließender Rückkehr ins LfV stieg Meyer-Plath nach der Selbstenttarnung des NSU sogar auf. Mittlerweile ist er Präsident des sächsischen LfV. Als solcher hat er im Angesicht von PEGIDA noch vor wenigen Wochen die Autonomen als stärkste extremistische Gefahr im Land Sachsen bezeichnet.
Gerade die Beispiele Temme und Meyer-Plath machen deutlich, wie schwer teilweise zu unterscheiden ist, wo terroristische und militante Nazi-Organisierung aufhört und der Staat beginnt. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr – nicht nur, aber auch – für uns als AntifaschistInnen und radikale Linke.
Im Weiteren dokumentieren wir in diesem Heft die Ankündigung zu einem NSU-Tribunal im nächsten Jahr, sowie einen zugesendeten Artikel zum Aussageverhalten von Neonazis im hessischen Untersuchungsausschuss. Danke für die Zusendungen und auch an Blackbox NSU, von denen wir einiges abgeschrieben haben. Danke an alle AntifaschistInnen, die in der Sache hartnäckig bleiben, ob investigative Recherche, Besuch von Untersuchungsausschüssen oder was auch immer. Alerta!
Faschismus auf allen Ebenen bekämpfen!
Verfassungsschutz auflösen!
Tribunal: NSU-Komplex auflösen – Betroffene von Rassismus klagen an
17. bis 21. Mai in Köln
Die Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den Jahren 2001 bis 2011 mit ihren zehn Todesopfern und vielen Verletzten ist bis heute nicht aufgeklärt. Der NSU-Prozess vor dem Münchner OLG sowie zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben bisher nicht aufgedeckt, welche Personen zum NSU gehören, wie das Netzwerk organisiert war, welche V-Leute der Geheimdienste beteiligt waren und auf welche Weise diese Dienste selber in den organisierten Nazi-Terrorismus verstrickt sind. Wir müssen daher davon ausgehen, dass noch immer Täter_innen und Unterstützer_innen dieses terroristischen Netzwerkes frei herumlaufen.
Auch die Rolle der Innenministerien und Regierungen ist noch unklar. Deutlich ist hingegen, dass es weder politische noch personelle Konsequenzen aus der planmäßigen Vertuschung von Zusammenhängen, der Vernichtung von Beweismaterialien und der Verharmlosung der politischen Dimension gab. Vor allem jedoch fehlt es sowohl juristisch, politisch als auch öffentlich an der Wahrnehmung und Wertschätzung der Erfahrungen, Erzählungen, Einschätzungen und Analysen derjenigen, die von diesem Terrorismus unmittelbar betroffen waren. Dabei haben Angehörige der Opfer bereits nach den Morden an Mehmet Kubasık am 4. April 2006 in Dortmund und Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ in Kassel und Dortmund der neun Opfer der Mordserie gedacht und die Behörden dazu aufgerufen, ein zehntes Opfer zu verhindern. Die Proteste und Anklagen der Angehörigen wurden zunächst ignoriert, obwohl sie schon damals formulierten, was erst heute nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommt: Die NSU-Morde sind eine rassistische Anschlagsserie, die Täter sind ausländerfeindliche Deutsche, und die deutschen Behörden unternehmen nichts, um diese Serie zu beenden. Des Weiteren wurden ausnahmslos alle Opfer bzw. ihre Familien nach demselben Muster als die Täter bezeichnet und behandelt; sowohl von den Ermittlungsbehörden, als auch von der Presse. Auf diese Weise wurde die Zerstörung, die durch die Morde und Bombenanschläge ihren Ausgang nahm, fortgesetzt und ausgeweitet. Nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 setzte eine beispiellose Kombination aus Betroffenheit und Vertuschung ein. Während im Namen der Opfer salbungsvolle Reden gehalten wurden, verschwanden die Aktenbestände, die für die lückenlose Aufklärung der NSU-Mordserie notwendig gewesen wären. Beides hatte den gemeinsamen Zweck, die Betroffenen zwar als Opfer anzuerkennen, ihnen aber jegliche Art der Wiedergutmachung und Gerechtigkeit zu verwehren. Sie finden sich erneut in einer Statistenrolle wieder – diesmal nicht als Täter, sondern als Opfer, in deren Namen sich mittlerweile viele profiliert haben.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Zusammenschluss der Initiativen, die zusammen mit den Betroffenen in den verschiedenen Städten die Aufklärung der NSU-Morde fordern und die Solidarität organisieren, dazu entschieden, eine eigene Antwort auf diese Situation zu finden.
Das bundesweite Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ wird daher im Frühjahr 2017 in Köln-Mülheim ein Tribunal veranstalten, bei dem das migrantisch situierte Wissen der vom NSU-Terror und vom Rassismus Betroffenen im Vordergrund steht und unüberhörbar werden soll. Das übergeordnete Ziel ist es, den strukturellen Rassismus am Beispiel des NSU-Komplexes anzuklagen. Konkret heißt das, zu begreifen was den Rassismus in Deutschland ausmacht, den NSU-Komplex offenzulegen, die Verantwortlichen zu benennen und die rassistische Spaltung in dieser Gesellschaft zu überwinden. Es wird Anklage erhoben gegen jede und jeden Einzelnen, die oder der sich schuldig gemacht hat an dem umfassenden rassistischen Angriff auf die (post-)migrantischen Lebensverhältnisse im Kontext der NSU-Mordserie. Neben den individuellen Entscheidungen wird sichtbar, in welchem institutionellen Rahmen sich die Angeklagten bewegt haben bzw. noch immer bewegen, und wie ihr Handeln eingebettet ist in einen strukturell rassistischen Kontext.
Vor allem aber soll den Betroffenen des NSU-Terrors bzw. ihren Hinterbliebenen jeglicher Raum gegeben werden, ihre Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen frei und ungehindert zu entfalten. Ihnen soll Würde zurückgegeben werden und Gerechtigkeit widerfahren – jenseits von zugeschriebenen Täter- oder Opferzuweisungen. Auf welche Weise sie den Rahmen des Tribunals nutzen wollen, wählen sie selbst frei aus.
Am Ende soll ein gemeinsames Manifest aus dem gewonnenen Wissen des Tribunals, aus den Berichten über Rassismus, aus der Offenlegung des NSU-Komplexes, aus den Erzählungen und Forderungen der Betroffenen des NSU-Komplexes sowie aus den Reflektionen von internationalen Beobachter erstellt werden. Dieses Manifest wird ein Forderungskatalog sowie Zukunftsprogramm entwerfen für eine zu gewinnende Gesellschaft ohne Rassismus.
Aufklärung durch Neonazis im NSU-Ausschuss?
Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des National Sozialistischen Untergrundes (NSU) ging auch die parlamentarische Aufarbeitung in Hessen in diesem Jahr in die nächste Runde. Als zweites Bundesland wurden nach Nordrhein-Westfalen (NRW) auch hier im Frühjahr Neonazis geladen. Ziel der Opposition war es, neben GeheimdienstmitarbeiterInnen und ErmittlerInnen auch andere Personen als „ExpertInnen“ anzuhören.
Mit dem V-Mann Benjamin Gärtner wurde als erstes einer der brisantesten Nazis im hessischen NSU-Komplex geladen. Gärtner telefonierte am Tag der Ermordung Halit Yozgats zweimal mit seinem V-Mann Führer Andreas Temme. Das zweite Telefonat fand nach der Ermordung statt und dauerte im Vergleich mit anderen erheblich länger. Wie schon bei seinen Aussagen im Prozess in München konnte sich Gärtner nicht mehr an Details erinnern. An die Deutsche Partei, auf die er als V-Mann angesetzt war, hatte er ebenfalls keine Erinnerungen und erklärte, bereits 2000 aus der Kameradschaft Kassel und der Naziszene ausgestiegen zu sein. Fünf Jahre später nahm er jedoch am Naziaufmarsch in Göttingen teil, Bilder zeigen ihn mit führenden Nazis aus NRW und Kassel. Gärtners Rolle im Komplex ist bis heute unklar, dass er als V-Mann lediglich auf die Deutsche Partei angesetzt war, wirft viele Fragen auf, da es sich hierbei um eine unbedeutende Splitterpartei handelt. Dabei war Gärtners Stiefbruder Christian Wenzel um 2000 als führender Nazi der Kameradschaft Sturm 18 sowie in der nordhessischen B&H Szene aktiv.
Auch Michel Friedrich präsentierte sich als Aussteiger. Früher sei er nach eigener Aussage bei der Kameradschaft Kassel, der Oidoxie Streetfighting Crew und ebenfalls bei Sturm 18 gewesen. Die Rolle der nordhessischen Naziszene spielte er herunter, in der Oidoxie Streetfighting Crew seien laut F. lediglich elf Leute gewesen. Auf einem Gruppenbild, welches ihm vorgelegt wurde, sind jedoch mehr als 40 Personen sichtbar. Bekannt wurde Friedrich noch einmal im Jahr 2015, als durch die Veröffentlichung seiner E-Mails ein Waffendeal platzte: Friedrich hatte Alexander Gorges angeboten, zwei halbautomatische Waffen zu verkaufen. Beide kennen sich seit Jahren, Gorges organisierte 2014 zuletzt ein B&H Konzert im Elsass.
Mit der Befragung von Kevin Schnippkoweit wurde ein deutlich jüngeres Szenemitglied geladen, der seit 2005 bei den „Freien Kräften Schwalm Eder“ aktiv war und heute in einer Frankfurter Kneipe arbeitet. Bekannt wurde Schnippkoweit durch das Videoprojekt „Volksfront Medien“ sowie einen Überfall auf das Sommercamp der Linksjugend 2008 mit anschließender Haftstrafe. Während dieser schloss er sich dem Aussteigerprogramm „Ikarus“ an. Schnippkoweit wohnte zeitweise im braunen Haus in Jena, wo er den derzeit im NSU-Prozess Angeklagten Ralf Wohlleben kennenlernte. Schnippkoweit berichtete, mit Heiko S. am Aussteigerprogramm teilgenommen zu haben. Dieser sagte laut einem Akteneintrag aus, bereits vor 2011 vom NSU erfahren zu haben. Eine weitere Befragung hierzu wurde von den Parteien unterbunden.
Als weiteres früheres Mitglied der Kasseler Naziszene sagte Oliver Podjaski aus. Der Mitbegründer der 1996 gegründeten Band „Hauptkampflinie“ verkündete 2009 seinen Ausstieg aus der Szene. Auch Philipp Tschenscher, der als „Reichstrunkenbold“ bekannte und verurteilte Nazi, wurde geladen. Der sich ebenfalls als Aussteiger präsentierende Liedermacher trat seit Beendigung seiner Haftstrafe 2015 wieder als Musiker auf.
Durch die Anhörung der Nazis konnten zunächst keine, den NSU-Komplex in Hessen weiter voranbringenden Erkenntnisse gewonnen werden. Dies lag zum einen an der mangelnden Kompetenz verschiedener Parteien im Bezug auf die rechte Szene, als auch an der Rolle des „Aussteigers“, mit welcher sich einige präsentierten. Der Begriff des „Aussteigers“ wurde nicht weiter hinterfragt, sodass die geladenen Nazis ihre Rolle und Performance während ihrer Aussage frei wählen konnten. Unabhängige Sachverständige, wie beispielsweise Jan Raabe, der in NRW zum Thema Musik und Musikindustrie aussagte, wurden nicht angehört.
Und auch die Opfer der rassistischen Mordserie werden in Hessen bis heute nicht als ExpertInnen angesehen. Die Eltern von Halit Yozgat, die regelmäßig im Prozess als NebenklägerInnen auftreten, wurden bislang in Hessen nicht angehört. Deren Expertise im Bezug auf die Ermittlungen und Einschätzung zu den Tätern, welche auf einer 2006 vom Umfeld der Familie Yozgat organisierten Demo mit 4000 Menschen auf ein rassistisches Motiv hingewiesen hatte, wird in Hessen bislang zurückgestellt und womöglich nicht mehr gehört werden. Wie viel vom Untersuchungsausschuss, der in Hessen voraussichtlich bis zur nächsten Landtagswahl im Jahr 2018 laufen wird, noch erwartet werden kann, ist unklar. Viele Teile des NSU-Komplexes sind seit der Selbstenttarnung des Trios vor fünf Jahren bekannt geworden, ein großer Teil wird jedoch weiterhin unbekannt bleiben. Je öffentlicher Ermittlungen und Aufarbeitungsprozesse stattfinden, desto kritischer können sie begleitet werden. Die Opferperspektive sollte hierbei allerdings nicht weiterhin ignoriert werden.