„Angesichts der Misere nicht resignieren“

Broschüre zu den Strategien sozialer Bewegungen in Barcelona und Madrid

Die Aufforderung, angesichts der Misere nicht zu resignieren, leitet die Interview-Broschüre mit dem Titel „Preguntando Cambiamos. Strategien sozialer Bewegungen in Barcelona und Madrid“ ein. Das herausgebende Malaboca Kollektiv versucht anhand von sechs Interviews mit Aktivist*innen aus den beiden spanischen Städten Strategien aufzuzeigen, mit denen die dortigen Bewegungen der Zuspitzung sozialer Verhältnisse begegnen. Die Interviewten sind in sozialen Zentren oder Lokalgruppen der Bewegung gegen Zwangsräumungen involviert. Eine wichtige Erfahrung für ihre politische Praxis waren die Debatten nach den Platzbesetzungen in Spanien, die auf die Massendemonstrationen am 15. Mai 2011 folgten. Die „Dezentralisierung“, weg von den Plätzen hinein in die Viertel, spielt dabei eine tragende Rolle.

Die Interviews sollen dem „vielstimmigen Widerstand und den unterschiedlichen Strategien Ausdruck (…) verleihen“, zugleich zieht sich wie ein roter Faden die implizite Frage durch das Heft, was wir von den sozialen Bewegungen in Spanien lernen können. Interessante Einblicke liefern die Antworten auch im Hinblick auf den Umgang mit der neuen (bewegungsnahen?) Partei Podemos.

Zum Hintergrund: In Spanien setzte in den 1990er Jahren ein scheinbarer wirtschaftlicher Aufschwung ein, der seine Grundlage vor allem im Boom der Bauwirtschaft hatte. Diese Entwicklung, ermöglicht durch billige Kredite, kam 2008 zu einem abrupten Ende als die einsetzende Weltwirtschaftskrise Spanien hart traf. Die Krisenpolitik der spanischen Regierung bestand, wie andernorts auch, aus der Rettung der Banken und der Reduzierung öffentlicher Ausgaben – Anfang 2010 wurden ein weitreichendes Austeritätspaket und radikale Einschnitte bei den Sozialausgaben beschlossen. Spanien hatte bereits vor der Krise unter den Kernländern der alten Europäischen Union den höchsten Anteil an prekären und befristeten Arbeitsverhältnissen und Erwerbslosen, verbunden mit einer der niedrigsten Quoten an Sozialausgaben und einem der höchsten Anteile an Niedriglohnbeschäftigten. Mit der Krise nahm vor allem die Erwerbslosigkeit junger Menschen unter 25 Jahren noch einmal deutlich zu (im Herbst 2011 waren fast 44% der Beschäftigten unter 25 Jahren von Erwerbslosigkeit betroffen). Diejenigen, die einen Job ergattern konnten, fanden sich in der Regel in befristeten Arbeitsverhältnissen bei niedrigen Löhnen wieder und hatten kaum eine Chance, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Am 15. Mai 2011 gingen hunderttausende Menschen auf die Straßen Spaniens, um unter Parolen wie „Echte Demokratie – jetzt“ ihre Wut über die Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen. Diese Demonstrationen waren der Ausgangspunkt einer Bewegung, die den Namen „15. Mai“ oder „15M“ bekam. Die Kritik richtete sich nicht nur gegen die sozialen Verhältnisse, sondern auch gegen die politische Repräsentation. Am folgenden Tag wurde aus Protest gegen die Festnahmen während der Demonstration der zentrale Platz Madrids, Puerta del Sol, besetzt. Als die Polizei den Platz mit Gewalt räumte, entschlossenen sich hunderte, dort ein Camp zu errichten. Bis zum Ende der Woche wurden landesweit in Reaktion auf die Ereignisse etwa 120 Plätze besetzt und Camps errichtet. In Barcelona und Madrid, den Städten mit den wichtigsten und größten Platzbesetzungen, kam es zu Meetings, an denen über 10.000 Menschen teilnahmen. In den Camps wurde der Alltag und die politischen Aktivitäten selbst organisiert – von der Beschaffung von Lebensmitteln, der medizinischen Hilfe, Müllabfuhr, Rechtsberatung bis hin zur Formulierung von Forderungen.

Die im Herbst 2015 geführten Interviews beziehen sich auf die Erfahrungen der Platzbesetzungen und der Kämpfe gegen die Austeritätspolitik. Ausgehend von den Platzbesetzungen und als Folge einer Stagnation der Bewegung entschieden sich viele Aktivist*innen, die Plätze zu verlassen und in die Stadtviertel Madrids und Barcelonas zurückzukehren. Interessant sind die politische Perspektive und der Mut, die Bewegung nicht dem stillen Zerfall zu überlassen, sondern zu versuchen, sie durch die Dezentralisierung zu stärken. „Der Ansatz war also, kleine, lokale Gruppen zu gründen, die die politische Idee teilten: Wenn du eine Revolution willst, musst du dich in deinem Viertel mit den Menschen, mit denen du dort lebst, organisieren“, so Hugo aus dem sozialen Zentrum La Morada in Madrid. Eine Vielzahl neuer politischer Projekte entstand: Nachbarschaftsversammlungen, Gemeinschaftsgärten, soziale Zentren und vieles mehr. Leute von der Comision Legal Sol und PAH Vallecas (Madrid) betonen im Interview die großen Veränderungen, die durch die neuen besetzten sozialen Zentren oder die Despensas, sogenannte Nahrungsmittelbanken entstanden sind. Gleichzeitig kritisieren sie die Entwicklung aus einer globalen Perspektive, denn, wie sie sagen, gab es „keinen konkreten Plan und wir waren auch nicht imstande dazu, einen Plan zu entwickeln“. Auch deshalb hätte sich ein Teil der Bewegung auf der parteiförmigen oder institutionellen Ebenen organisiert oder sei wieder in die Passivität zurückgekehrt.

Neben der Dezentralisierung der Bewegung sind die weiteren Kernthemen der Interviews die Organisierung mit und von Betroffenen von Zwangsräumungen und die Frage der Haltung zu den Parteien. Dabei eint die Interviewten, keine Stellvertreterpolitik machen zu wollen, sondern, wie Albert von der PAH Sabadell sagt: „Unseren Schwerpunkt haben wir immer darauf gelegt, politische Subjekte aufzubauen, kollektive politische Subjekte.“ Die Haltungen zu den aus der Bewegung entstandenen parteipolitischen Projekten wie Podemos sind ambivalent bis kritisch. Alle Interviewten teilen die Auffassung, dass es wichtig sei, weiterhin von unten zu arbeiten.

In ihrer Einleitung schreibt das Malaboca Kollektiv, dass „die politischen Entwicklungen in Spanien (…) in linken Debatten einen marginalen Stellenwert“ haben. Mit den Interviews ist es dem Kollektiv gelungen, einen guten direkten Einblick in die politischen Strukturen und Debatten der radikalen Linken Spaniens zu erhalten. Die Reduzierung auf Edition und Übersetzung verhilft zwar zu einem ungefilterten Eindruck, wünschenswert wäre aber eine etwas ausführlichere Einführung in die gesellschaftliche Situation in Spanien gewesen und eine Positionierung des Malaboca Kollektivs zu den in den Interviews gewonnenen Erkenntnissen. Eine Einordnung und ein Abgleich mit den Fragen, die sich hier bei uns stellen, würden einer Diskussion sicher gut tun. Nichtsdestotrotz erweitert die Beschäftigung mit der Broschüre aber die Perspektive. Sie sollte deswegen unbedingt gelesen werden!

Weitere Informationen und einen Pdf-Download gibt es auf der Webseite des Kollektivs unter

www.malaboca.noblogs.org

Als Ergänzung zur Entstehungsgeschichte von 15M empfehlen wir den Beitrag von Andy Durgan und Joel Sans „»Niemand repräsentiert uns«: Die Bewegung 15. Mai im spanischen Staat“ im Sammelband „Krisen Proteste“, erschienen im Verlag Assoziation A.