Es gibt kein Zurück zur Normalität, es wird nichts vergessen. Hanau ist sechs Monate her. Hanau ist überall.
Und dennoch klingt „Hanau“ heute anders, wenn man es in Berlin oder Freiburg, in Dortmund oder in Leipzig hört. Es ist etwas hinzugetreten, etwas, das nun untrennbar und auf lange Zeit mit der Stadt und ihrer Geschichte verbunden sein wird: Die Gesichter und Stimmen der Angehörigen, Familien, der Freund*innen der Opfer und der Jugendlichen aus Hanau, ihr Zusammenhalt, ihre Wut, Kraft und Trauer. Das Bild, das sie am Samstag zeigten, jede und jeder für sich und alle gemeinsam, ging in die Welt: „Wir lassen uns nicht zu Fremden machen und auch nicht zu Opfern. Wir geben keine Ruhe“. Hanau weckt heute nicht nur Empathie oder Mitleid, sondern Respekt und genaues Hinhören. Hanau ist nicht bloß ein Ruf nach Unterstützung – Hanau gibt auch vielen anderen Kämpfen Kraft und Mut.
Fast 50 Menschen standen am 22. August auf der Bühne. Vor ihnen standen nicht die erwarteten 5000, sondern gerade einmal 249. Aber es hörten Zehntausende im ganzen Land zu, nicht nur vor Bildschirmen zu Hause, sondern auch auf öffentlichen Plätzen, in Cafés und Läden. Viele sagten uns, dass sie nun nochmal deutlicher verstanden haben, dass der 19. Februar mitnichten vorbei ist. Hanau, die Erinnerung genauso wie der Kampf der Angehörigen, Freund*innen und Unterstützer*innen, ihre Stärke und ihre Ausdauer ist jetzt überall. Auch wir selbst – die Initiative und die Menschen, die auf der Bühne standen, Angehörige, Überlebende – haben so viele berührende, beeindruckende, motivierende Rückmeldungen bekommen und haben viel Kraft und Mut aus diesem Tag und aus Euren Rückmeldungen geschöpft.
Die Unterstützung von Tausenden auf den Straßen Hanaus, sie konnte nicht stattfinden. Das fehlt und ist mit keinem Live-Stream zu ersetzen. Wir denken trotzdem, dass wir alle gemeinsam aus dem Verbot etwas Gutes machen konnten und dass es keineswegs ein Rückschlag war. Warum? Weil so das Herzstück des geplanten Tages – die Kundgebung der Angehörigen, der Freund*innen, der Überlebenden der rassistischen Anschläge in Hanau, in Halle, in Wächtersbach und in Mölln – stattfinden konnte. Weil ihre Stimmen groß und laut wurden, auf Plätzen, auf Straßen, in Euren Zimmern. Dafür danken wir Euch. Entschuldigen möchten wir uns bei den Menschen, die Reisebusse und Gruppen organisiert hatten und so wahnsinnig kurzfristig daheim blieben. Wir hätten gern mit Euch zusammen in Hanaus Straßen demonstriert.
Arbeit, Konsum, Fußball, Urlaub: Es wurde viel getan für die Wiedereröffnung der Büros, Fabriken und Einkaufsmeilen in den Corona-Monaten, die zugleich die Monate nach dem 19. Februar waren. Wäre der Elan in Bezug auf Hanau auch nur halb so groß gewesen, wäre den Hinterbliebenen sicher vieles erspart geblieben. Hier gab es geschlossene Jugendzentren, Hinhalterei und jetzt ein Demoverbot, das aus regionaler Perspektive konsequent war und dennoch auch die Absurdität der herrschenden Prioritätensetzung zeigt. Einer Prioritätensetzung, die genauso falsch ist wie sie uns nicht überrascht. Es trifft als erstes die, die es eben immer als erstes trifft. Und nebenan darf weiter in überfüllten „Konsumzonen“ geshoppt werden.
In dem Verbot seitens der Stadt sehen wir aber, um es nochmal deutlich zu sagen, keine politisch motivierte Absage und nicht den Missbrauch der Corona-Regeln durch die Stadt, wie es mancherorts – vor allem außerhalb Hanaus – spekuliert wird. Die Demonstration wurde wegen (auch über das Wochenendende der geplanten Demonstration hinaus weiter) steigender Corona-Zahlen in Hanau selbst und im gesamten Landkreis Main-Kinzig verboten.
Und dennoch, und auch wenn Hanau nicht Berlin ist: nach dem letzten Wochenende bleibt auch das Bild, dass Demo und Gedenken in Hanau verboten wurden, während in Berlin Nazis auf den Stufen des Reichstags posieren konnten. Es mag nachvollziehbare Erklärungen geben, warum es zum Verbot kam und dass dahinter keine bösen Absichten stecken. Trotzdem muss man sagen: das alles passt zu Deutschland im Jahr 2020.
Der vergangene Samstag war ein wichtiger Tag. Wir danken allen, die ihn möglich gemacht haben. Allen, die dabei waren, die zugeschaut und zugehört haben, die mit dem letzten und dem ersten Zug kamen, die ganze Nacht telefoniert, geschraubt, organisiert haben, über Nacht eine kleine Technikburg neben der Bühne aufgebaut haben, um die Kundgebung in unzählige Wohnzimmer und öffentliche Plätze zu streamen. An die, die Sharepics gemacht und die Infos gestreut, die Texte geschrieben, Geld gespendet, Kaffee um drei Uhr nachts gebracht und auf die Kinder aufgepasst haben. An die Zeitungen, NGOs und bundesweite und lokale politische Organisationen, die ihre Internetauftritte zum Streamen bereitgestellt haben. An die über 50 Städte bundesweit, die über Nacht lokale Kundgebungen und Public Viewings des Streams organisiert haben.
Der 22. August hat für uns so stattgefunden, wie er war. Es gibt für uns nichts nachzuholen. Die durch Angehörige, Überlebende, Freund*innen geplante Demonstration sechs Monate nach den Anschlägen sollte kein Show-Event sein, das man nachholt. Wir machen weiter, und zwar gemeinsam hier vor Ort, gemeinsam bundesweit, gemeinsam mit Euch. Und dennoch: Auch die nächste Demo kommt bestimmt.
Wir geben keine Ruhe. Für lückenlose Aufklärung, für Gerechtigkeit und Unterstützung, für angemessenes Erinnern, für politische Konsequenzen.
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