Ein Aufruf zur Debatte
Wie verhalten wir radikale Linke uns in der Pandemie? Wie positionieren wir uns zu den staatlichen Maßnahmen? Wie können wir Widerstand und radikale Haltung unter den Bedingungen eines (partiellen) Ausnahmezustands aufrechterhalten?
Wir haben versäumt, über den Sommer hinweg gemeinsame Diskussionen zu den Aufgaben linker Politik im Umgang mit Corona und den staatlichen Maßnahmen zu führen. Auch innerhalb der linken Bewegungen war der Umgang mit der Pandemie weitgehend individualisiert – eine kollektive politische Positionierung, die auf einer gemeinsamen Debatte fußt, blieb aus.
Wie haben sich die linken
Strömungen verhalten?
Relativ schnell organisierten Linke in Frankfurt und einigen anderen Orten Hessens lokale solidarische Nachbarschaftshilfe. Die Kommunikation fand aufgrund der Unsicherheit der ersten Monate hauptsächlich über digitale Medien und Messengerdienste wie Telegram oder Signal statt. Einen realen Widerhall hat die Organisierung dieser Gruppen unseres Erachtens kaum gehabt. Auch kam es nur selten zur Kontaktaufnahme von Menschen, die Unterstützung beim Einkaufen oder beim Hund ausführen benötigten. Es zeigte sich, dass Unterstützung meist im direkten nachbarschaftlichen Umfeld organisiert wurde und es dazu keine linken Strukturen benötigte. Im nachbarschaftlichen Umfeld war die Hilfsbereitschaft, soweit wir das beobachten könnten, sehr groß. Trotzdem würde uns hier auch eine Auswertung und Einschätzung der Stadtteilgruppen interessieren. Was lief gut, was lief schlecht?
Politisch konnten die Gruppen überhaupt keine Positionierung erreichen. In einzelnen „Solidarisch-Gruppen“ war sogar ein Bezug auf die Proteste gegen die EU-Grenzpolitik unerwünscht. Ein Austausch auch im „realen Leben“ fand unserer Beobachtung nicht statt. Somit blieb dieser erste Ansatz ein rein bürgerschaftliches Hilfsprogramm ohne konkrete Wirkung.
„Leave no one behind“ war das andere große Motto, zu welchem frühzeitig im April Aktionen stattfanden und einen sofortigen Abschiebestopp, eine Auflösung der Lager und gleiche Rechte und gleicher Zugang zu Gesundheitsversorgung forderten. Dabei wurden auch die staatlichen Maßnahmen (Abstand halten, „#stayathome“) als exklusiv kritisiert, da Geflüchtete in Lagern keinen Abstand halten können und Obdachlose kein zu Hause haben, in dem sie bleiben können: Es ist ein Privileg, Corona-Regeln einhalten zu können. Im März/April setzten sich bundesweit Linke über die bestehenden Versammlungsverbote hinweg (und bekamen staatliche Repressalien zu spüren), ohne den Ausnahmezustand und die Grundrechtseinschränkungen direkt zu thematisieren.
Im Nachhinein würden wir dies als Fehler bezeichnen, denn so konnten sich rechte Gruppen des Themas vermeintlich annehmen. Unser Eindruck ist, dass die staatlichen Maßnahmen von vielen Linken als notwendiges Übel hingenommen wurden. Dabei hätten wir – und wir können es jetzt im Herbst auch wieder – die allgemeinen sinnvollen Schutzmaßnahmen ernst nehmen und propagieren können und gleichzeitig gegen die teilweise massiven Grundrechtseinschränkungen wie Demonstrationsverbote vorgehen müssen. Denjenigen, die wie das Capulcu-Kollektiv vor staatlichem Missbrauch von Corona-Tests gewarnt hatten, wurde implizit unsolidarisches Verhalten und Panikmache vorgeworfen. Zwar ist bisher kein Zugriff des Staates auf DNA-Proben über Corona-Tests bekannt geworden, doch haben uns die letzten Monate gezeigt: Kontaktlisten in Gaststätten werden, trotz anfänglicher Kritik, durch Polizeiorgane genutzt; zu Anfang der neuen Ausnahmemaßnahmen im November wird über die Unverletzlichkeit der Privatsphäre und die Anbindung der Corona-Warn-App an die Ämter diskutiert. Dem Staat ist nie zu trauen!
Mit dem Auftreten von „Querdenken“, Verschwörungsideologen und anderen Strömungen der Corona-Leugner*innen wurde es scheinbar für viele Linke unmöglich, eine Position zu vertreten, die nicht das hohe Lied auf die staatlichen Maßnahmen singt, aber auch nicht die Gefahr durch Corona herunterspielt.
Hinzu kam, dass direkt zu Beginn und teilweise noch vor offiziellen staatlichen Verordnungen linke Zentren dicht gemacht haben. Das war eine schwer zu verdauende Entscheidung – aus damaliger Sicht nicht völlig unverständlich, da Ausbreitungsweise und Gefährlichkeit des Virus noch unklar waren, aber doch schwerwiegend, weil wir uns somit Orte kollektiver Diskussionen beraubt haben. Auch hierzu erwarten wir noch Stellungnahmen und Erklärungen der Zentren.
Wir können uns vieles nur mit der Klassenzugehörigkeit und einem inzwischen relativen positiven Staatsbild erklären. Ein Großteil der Linken betreibt heutzutage Klientel-Politik für aufgeklärte Mittelschichten. Zwar gibt es Unterstützung für soziale Kämpfe und gegen Ausgrenzung – aber Linke gehören in den seltensten Fällen zu „Betroffenen“ oder kämpfen als Teil der proletarisierten Klasse. Die Diskussionen um „Neue Klassenpolitik“ hat in diese Situation zwar Bewegung gebracht, bleibt aber äußerlich.
Forderungen nach „Degrowth“ oder einer „Transformation“, die heutzutage bis weit in linksradikale Gruppen Einzug gehalten haben, zeigen ein reformistisches Gedankengut, dass die Hoffnung auf eine radikale Veränderung aufgegeben hat.
Ein anderer Punkt ist, dass die staatlichen Maßnahmen soziale Verhältnisse und Beziehungen atomisieren, aber zugleich auf atomisierte soziale Beziehungen innerhalb der Linken treffen. Die neoliberale Subjektivierung ist auch an der Linken nicht spurlos vorrübergegangen. Versuche mittels konstruierter Identität wieder eine Form von Kollektivität aufzubauen, müssen aber scheitern, so lange nicht ehrlich über Karriereentscheidungen, Klassenherkunft und -zugehörigkeit geredet wird. Und solange diese Kollektivität rein äußerlich bleibt und auch ihr Verhältnis zur individuellen Freiheit klärt.
Auf der anderen Seite verkennt der Aufruf zur Unversöhnlichkeit aus der insurrektionalistischen Ecke, wie weit diese Position von der Lebensrealität der meisten Menschen, auch aus unserem Umfeld, entfernt ist.
Nun kommen im Herbst weitere staatliche Maßnahmen – große Massenunterkünfte für Geflüchtete bleiben bestehen, Logistik- und Fleischereiunternehmen dürfen weiterhin den Infektionsschutz ignorieren. Natürlich müssen wir auch hier ansetzen – bei der dezentralen Unterbringung von Geflüchteten ist Hessen ganz hinten: 2/3 leben in Gemeinschaftsunterkünften, was schon in normalen Zeiten beschissen ist, jetzt ist es eine Katastrophe. Wir werden uns aber auch zu den staatlichen Ausnahmeverordnungen verhalten müssen, wollen wir in Zukunft noch glaubwürdig sein.
Wir sagen nicht: Schützt euch oder andere nicht
Wir sagen nicht: seid unsolidarisch
Wir sagen nicht: helft nicht euch und anderen
Wir sagen nicht: haltet keinen Abstand, nutzt keine Masken
Wir sagen: wer sich solidarisch verhalten will, muss dies auch gegen den Staat tun.
Wer unter „Solidarisch gegen Corona“ versteht, staatliche Maßnahmen kritiklos hinzunehmen, handelt nicht solidarisch, sondern egoistisch.
Einige Autonome