Nach den rassistischen Morden in Hanau

Initiative 19. Februar eröffnet im Mai eine antirassistische Anlaufstelle

Wir waren und sind von den Schüssen be- und getroffen. Es bleibt eine riesige Wunde aus Trauer und Trauma, mit der wir in unserer kleinen Stadt zu kämpfen haben. Einige von uns hatten in den letzten Monaten „MigrAntifa“ mit vorangetrieben und waren dazu viel in Sachsen und anderen Orten rassistischer Übergriffe unterwegs. Natürlich sind wir auch in Hanau selbst mit institutionellem Rassismus konfrontiert oder mit der AfD. Aber es hat sich vor dem 19.2. niemand von uns vorstellen können, dass es unsere so migrantisch geprägte Stadt in dieser Dimension treffen könnte. Ein Einschnitt in unserem sozialen und politischen Alltagsleben, mit dem wir noch lernen müssen, umzugehen.

Die Initiative 19. Februar Hanau ist eine Form, Handlungsmöglichkeiten gegen die Lähmung durch das Schreckliche zurückzugewinnen. Die Stimmen der Angehörigen und Freund*innen der Opfer sowie der Überlebenden hörbar zu machen. Mit ihnen zu versprechen: Nichts wird vergessen. Mit allen Mitteln zu versuchen, eine lückenlose Aufklärung zu fordern. Und schließlich die rassistische Hetze und das Klima zu bekämpfen, die eine solche Tat möglich gemacht haben. „MigrAntifa“ wird in Hanau mit der Initiative 19. Februar eine neue Anlaufstelle bekommen.

Der rassistische Terroranschlag am 19. Februar in Hanau reiht sich ein in die Zunahme rechter und rassistischer Gewalt der letzten Jahre und Monate. Die Morde stehen im Kontext eines gesellschaftlichen Rechtsrucks und zunehmender Hetze, die über die AfD auch weit in die bürgerlichen Parteien und in die Regierungspolitiken hineinreicht. Es war zunächst tröstlich zu erleben, dass bei der zentralen Trauerfeier am 6. März 2020 in Hanau selbst ein Bundespräsident den strukturellen Rassismus thematisiert. Ausdruck dafür, dass es gelungen ist, eine gewisse Diskursverschiebung zu erreichen. Allerdings nützen schöne Worte wenig, wenn es kein Handeln mit sich bringt. Die NSU-Akten werden nicht offengelegt, Rechtsextreme verfügen weiter über Waffenscheine und es gibt keine Anzeichen, dass bei der Bundeswehr, im Polizeiapparat oder auch bei Behörden und in Schulen eine ernstgemeinte Entnazifizierung in Angriff genommen würde.

Vor diesem Hintergrund benötigt es dauerhafte unabhängige Strukturen und kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, die insbesondere die Stimmen der von Rassismus Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und sie zur kollektiven Selbstorganisierung ermutigt. Dafür soll die neu eingerichtete Anlaufstelle eine Infrastruktur bieten. In Hanau sind insgesamt weit über 100 Menschen durch die Morde vom 19.2. traumatisiert worden und in dieser Situation erscheint die Möglichkeit direkten Austauschs besonders wichtig. Die Anlaufstelle in der Innenstadt – und nicht zufällig in direkter Nähe zum ersten der beiden Tatorte – bietet mit zwei Räumen und über 150 qm genug Platz und dieses Angebot wurde von vielen Betroffenen schon in den ersten Tagen der informellen Eröffnung stark genutzt. Anfang Mai ist die offizielle Eröffnung geplant.

In den letzten Wochen wurde in vielen Gesprächen die Idee der Kampagne „19! – Gegen das Vergessen“ entwickelt. Es gibt vielfältige Vorschläge, in den kommenden Monaten – und sobald möglich auch wieder im öffentlichen Raum – jeweils zum 19. eines Monats gemeinsam aktiv zu werden. Insofern zielt diese Kampagne einerseits auf die unmittelbare Ermutigung der Betroffenen, andererseits soll sie in Hanau und über die Region hinaus mit regelmäßigen Aktionen Aufklärung zu den Morden sowie konkretes präventives Handeln gegen den Rechtsextremismus einfordern.

Die Kampagne versteht sich als Teil bundesweiter Bemühungen, Netzwerke von Betroffenen rassistischer Gewalt zu verstärken und neue Strukturen der „MigrAntifa“ sowohl gegen rechtsextremen Terror wie auch gegen den Alltagsrassismus aufzubauen. Nur wenn es an vielen Orten gelingt, einen breiten und insbesondere auch von unterschiedlichen migrantischen Communities mitgetragenen Widerstand zu entwickeln, wird es möglich sein, die Durchsetzung von Forderungen wie Entnazifizierung der Behörden, Offenlegung der NSU-Akten oder auch Entwaffnung von Rassist*innen konkret in Gang zu bringen.

Initiative 19. Februar in Hanau

„Nach den rassistischen Morden in Hanau am 19. Februar 2020 haben wir uns auf Mahnwachen, Kundgebungen und Beerdigungen ein Versprechen gegeben: Dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden. Dass wir uns nicht allein lassen. Dass es nicht bei folgenloser Betroffenheit bleibt. Die Kameras und Politiker*innen verlassen jetzt wieder die Stadt. Wir bleiben. Wir gründen eine Initiative, um der Solidarität und den Forderungen nach Aufklärung und politischen Konsequenzen einen dauerhaften Ort zu geben. Wir werden nicht zulassen, dass der 19. Februar 2020 unter den Teppich gekehrt wird – so wie die unzähligen rechten Morde zuvor. Und auch nicht, dass erneut Täter geschützt und ihre Gewalt verharmlost werden.

Es braucht jetzt direkte Unterstützung für Betroffene, Kontakte zu Rechtsberatung und erfahrenen Anwältinnen, psychologischen Beistand und Umzugshilfe, finanzielle Unterstützung und unabhängige Aufklärung. Und es geht um mehr: Jugendliche und Erwachsene in Hanau sprechen in den letzten Tagen viel darüber, welche Alltagserfahrungen sie mit Rassismus machen – in der Schule, in der Kita, auf der Arbeit, in der Bahn. Auch für diese Gespräche braucht es einen Raum und Vertrauen. Gegen das Vergessen, gegen das Verschweigen, gegen die Angst. Diesen Raum wollen wir schaffen, mit allen gemeinsam, die ihn brauchen, hier, vor Ort.

Wir schaffen einen Raum des Vertrauens. Wir wollen politische Solidarität und Sichtbarkeit. Wir stehen für die Gesellschaft der Vielen. Hanau ist unsere Stadt, unser Zuhause. So ist es und so wird es bleiben. Hier sind die Angehörigen, Familien und Freund*innen der Opfer und Verletzten. Sie müssen gehört werden. Die nächsten Wochen, Monate und Jahre werden wir uns gegenseitig Halt geben. Und dafür sorgen, dass Konsequenzen gezogen werden – und dass nichts vergessen wird.“
https://19feb-hanau.org

Stellungnahme der Initiative 19. Februar Hanau zur rechtsextremen Motivation sowie zur Informationsblockade bezüglich der rassistischen Morde in Hanau

Was wir wissen:

  • Tobias Rathjen, der Mörder von Hanau, hatte bei seiner Tat am 19. Februar 2019 eine Waffe der Marke Czeska dabei, die er sich 12 Tage vorher bei einem lokalen Waffenhändler ausgeliehen hatte.
  • Auf der Webseite des Täters war ein weißer Wolf mit blauen Augen abgebildet.
  • Rathjen war in den letzten Jahren u.a. in Wyoming in den USA und in mehreren europäischen Ländern unterwegs und hat – wie unlängst vom Spiegel gemeldet – zweimal an „Gefechtstrainings“ in der Slowakei teilgenommen.

Wir wissen noch nicht:

  • ob – und wenn ja, wen – Rathjen am 19.02.2020 mit der Czeska erschossen hat.
  • ob er sich als „einsamer Wolf“ im nazistischen Konzept des „führerlosen Widerstandes“ verortet oder zumindest darauf bezogen hat.
  • ob er allein in der Slowakei war und ob er wie auch immer geartete Kontakte zu Rechtsextremen in Europa und/oder den USA hatte.

Wir fragen uns:

  • Ist es ein Zufall, dass Rathjen eine Czeska – die Mordwaffe des NSU – ausgeliehen und womöglich auch eingesetzt hat?
  • Ist es ein Zufall, dass er ein Symbol für seine Webseite verwendet hat, das eine historische wie auch aktuelle Geschichte des Nazismus hat?
  • War Rathjen – jenseits seiner Slowakei-Besuche – nur auf Urlaubsreisen in den anderen europäischen Ländern und in Wyoming?

Und wir fragen uns natürlich: Warum geben die zuständigen Behörden seit nahezu sechs Wochen keinerlei Informationen zum aktuellen Ermittlungsstand heraus? Nichts zu ballistischen Untersuchungen, nichts zu Rathjens Webseite und nichts zu seinen Auslandsaufenthalten. Eine faktische Informationsblockade, während aus dem BKA angebliche Zwischenberichte in die Medien kommen, die die rassistische Motivation der Morde relativieren, um dann wieder dementiert zu werden.

Wir versprechen: wir werden nichts vergessen und gemeinsam mit Angehörigen und Freund*innen der Opfer auf einer lückenlosen Aufklärung der Morde und deren Hintergründe bestehen.

Initiative 19. Februar Hanau am 7. April 2020

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