Den Toten des Grenzregimes gedenken.
Solidarität mit den Familien der 91 im Mittelmeer Verschollenen!
Am 9. Februar 2021 jährt sich ein Schiffsunglück vor der Küste Libyens – eines von unzähligen in den vergangenen Jahren auf dem Mittelmeer. In einer wütenden und würdigen Kundgebung wird an diesem Tag den 91 Vermissten gedacht, in verschiedenen Europäischen Städten, darunter Frankfurt, sowie in Tripoli (Libyen) und in Al-Fashir (Darfur/Sudan).
Vor einem Jahr, am 9. Februar 2020 um 4.09 Uhr morgens, wurde das Alarmphone von einer Gruppe von 91 Menschen angerufen. Sie befanden sich auf einem treibenden schwarzen Schlauchboot vor Garabulli, Libyen, in Seenot. Die Menschen waren in Panik, aber es gelang ihnen, ihre GPS-Koordinaten klar zu kommunizieren, die das Alarmphone sofort an die Italienischen und Maltesischen Behörden sowie an die sogenannte libysche „Küstenwache“ weiterleitete.
Um 5.35 Uhr riefen die Menschen in Seenot das Alarmphone zum letzten Mal an. Danach konnte kein Kontakt mit dem Boot mehr hergestellt werden. Die sogenannte libysche Küstenwache, die von Europa finanziert und ausgebildet wird, um Grenzkontrollen und Gewalt an den Grenzen zu delegieren, teilte dem Alarmphone mit, dass sie nicht die Absicht hätten, die Menschen in Seenot zu suchen und zu retten, denn ihre Gefängnisse seien voll.
An diesem Tag wurde auch ein Boot nach Malta gerettet, und viele hofften, dass es das Boot sei, welches das Alarmphone alarmiert hatte. Es wurde jedoch schnell klar, dass es sich um ein zweites Boot in Seenot handelte: ein weißes statt eines schwarzen Schlauchbootes, mit 82 statt 91 Menschen an Bord.
Aufgrund des Schweigens der Behörden über das Schicksal der Menschen auf dem schwarzen Schlauchboot – und das ist keine Ausnahme, sondern betrifft die meisten Boote in Seenot im zentralen Mittelmeer – müssen sich das Alarmphone sowie Angehörige und Freund*innen von Menschen in Seenot meist auf bruchstückhafte Informationen verlassen und versuchen, entscheidende – wenn auch minimale – Details zusammenzubringen, um zu rekonstruieren, was mit Menschen in Seenot bzw. mit den Vermissten passiert ist.
In den Tagen nach dem 9. Februar 2020 wurde deutlich, dass die 91 Menschen nirgendwo zu finden waren. Es gab keine Spur von ihnen an Land und nichts, was darauf hindeutete, dass sie noch auf See waren. Einen Monat später schrieb das Alarmphone einen offenen Brief an alle Behörden und fragte, was an diesem Tag passiert sei und was sie unternommen hätten, um die 91 Menschen zu suchen und zu retten, doch erhielten sie von niemandem eine Antwort.
Erst zehn Monate später, als im Dezember 2020 eine weitere Anfrage an alle Behörden geschickt wurde, antwortete Frontex – eindeutig das Ergebnis des gestiegenen Drucks auf die EU-Grenzagentur und der Ermittlungen über ihre Beteiligung an den Push-Backs, die internationale Aufmerksamkeit und Verurteilung hervorgerufen haben. Frontex schickte jetzt auch ein Foto, das am 9. Februar 2020 aufgenommen worden war. Es zeigt ein Schlauchboot in der Nähe der GPS-Position, die damals von den 91 in Not geratenen Menschen gemeldet wurde. Es sind jedoch keine menschlichen Überreste auf dem Foto zu erkennen.
Black Lives Matter
Während des gesamten vergangenen Jahres haben Familien und Freund*innen der 91 Vermissten, die sich an Bord des schwarzen Schlauchbootes befanden, auf der Suche nach ihren Angehörigen sowohl das Alarmphone als auch europäische Behörden kontaktiert, aber niemand hat ihnen Antworten gegeben. Dank der kollektiven Bemühungen und der Selbstorganisation der Familien, vor allem in Darfur, wo die meisten der Hinterbliebenen leben, wurde eine Liste der Vermissten erstellt, die bislang 62 Namen und viele Fotos enthält. Dies gibt vielen von denen, die die europäische Behörden an dem Tag auf See verschwinden ließen, einen Namen, ein Gesicht, ein Lächeln.
Ohne dass Leichen gefunden werden und ohne klare Antworten, ist es für ihre Familien unmöglich, etwas über das Schicksal der vermissten Liebsten zu erfahren und mit dem Verlust abzuschließen.
Die 91 Menschen, die seit dem 9. Februar vermisst sind, sind in den offiziellen Statistiken nicht erfasst. Sie zählen nur jene Schiffsunglücke, die von Überlebenden bestätigt wurden. Gibt es aber keine Zeug*innen, werden sie nicht gezählt, so dass Dutzende Unglücke von internationalen Organisationen nicht anerkannt werden.
Die Logik, das Leben und den Tod von People of Color allein auf Zahlen und Statistiken zu reduzieren, ist abzulehnen. Diese rassistische Entmenschlichung erklärt nicht den Verlust von Abdul, von Aboubacar, von Adnan, von Abdel. Sie erklärt nicht den Schmerz, der ihren Müttern, ihren Schwestern, ihren Freund*innen zugefügt wurde. Es berücksichtigt nicht die Gewalt der White Supremacy, durch Taten oder durch Untätigkeit, historisch und gegenwärtig, die weiterhin People of Color mordet oder sie auf See sterben lässt.
Das Schweigen und der Mangel an Anerkennung verweigert ganzen Gemeinschaften das Recht, zu erfahren, was mit den Menschen passiert ist, die sie vermissen. Es verweigert ihnen das Recht, ihre Angehörigen zu beerdigen, um sie zu trauern und mit den schmerzhaften Suchaktionen abzuschließen.
Ganze Gemeinschaften sind von diesem gewaltsamen Schweigen betroffen. Sie weigern sich aber, zum Schweigen gebracht zu werden und schließen sich stattdessen zusammen, um Antworten zu fordern. Am 9. Februar versammeln sich die Familien und Freund*innen der 91 Vermissten in Al Fasher, Darfur, um ihren Angehörigen zu gedenken und um gegen das Unsichtbarmachen des Verschwindenlassens ihrer Angehörigen zu protestieren.
Say their names!
In Solidarität mit ihnen und in Solidarität mit den Freund*innen und Familien aller Menschen, die durch das gewaltsame europäische Grenzregime verschwunden sind oder getötet wurden, werden in mehreren Städten Antworten gefordert. Gemeinsam werden die Namen der Verschollenen genannt, um Europa daran zu erinnern, dass jedes Schwarze Leben zählt, dass nicht vergessen wird und dass weiter gegen das rassistische Grenzregime gekämpft wird.
Für ein Ende der rassistischen Gewalt, der Tötung von Menschen auf der Flucht und ihres gewaltsamen Verschwindenlassens.
Heute und jeden Tag soll Europa für seine rassistische Gewalt zur Rechenschaft gezogen werden. Für Bewegungsfreiheit für alle. Stoppt das Sterben auf See, jetzt!