Die Katastrophe nach der Katastrophe

Weiterleben in Hanau nach dem 19.2. und in Coronazeiten – Bericht aus dem JUZ Kesselstadt geklaut aus der Süddeutschen Zeitung.
Bei uns im Juz – so nennen wir unser Jugendzentrum – hat sich vor Jahren ein Ritual eingebürgert, das allen sehr wichtig ist: Zur Begrüßung geben wir uns die Hand. Auch die älteren Jungs, die nur zum Billard spielen kommen, gehen als erstes zu uns Sozialarbeitern für einen kurzen Handschlag und ein Schwätzchen. Wir sind ein großes Jugendzentrum, bieten Hilfe bei den Hausaufgaben an, haben einen Tischtennisraum, PC-Arbeitsplätze, eine Boxhalle im Keller, einen Garten mit Basketballfeld und eine Küche, in der fast jeden Abend eine Gruppe gemeinsam kocht. An normalen Tagen kommen etwa 80 Jugendliche zu uns. Das sind 80 Handschläge. Seit den Morden sind daraus Umarmungen geworden. So viel umarmt wie in den letzten Wochen haben wir uns noch nie.
Unser Juz liegt genau zwischen dem Kurt-Schumacher-Platz, wo sechs Menschen erschossen wurden, und dem Haus des Täters. Man läuft keine Minute dorthin. An dem Abend muss der Täter bei uns vorbeigefahren sein, als wir gerade das Juz abschlossen. Das war um kurz nach 22 Uhr. Fünf der sechs Opfer kennen wir persönlich, drei von ihnen waren regelmäßig bei uns. Der Ferhat sogar jeden Tag. Ein paar Minuten, bevor er starb, habe ich ihm im Juz noch ein Würstchen im Brot in die Hand gedrückt und ihn dann verabschiedet. Die Schüsse habe ich nicht gehört, aber als ich im Auto saß, auf dem Weg nach Hause, habe ich mich über die Polizeiautos auf dem Kurt-Schumacher-Platz gewundert und bin ausgestiegen. Die Opfer lagen noch auf dem Boden. Wenn sie die Gesichter kennen und das Blut sehen, dann gehen sie nicht unbeschadet aus so einer Situation raus.
Alle unsere Jugendlichen sind nun traumatisiert. Viele waren mit den Opfern befreundet oder verwandt. Einige haben die Anschläge miterlebt. Auf dem Kurt-Schumacher-Platz aber auch in der Innenstadt. Zufällig saßen ein paar unserer Jungs dort in der Shisha-Bar, in der auch geschossen wurde. Drei Jugendliche, die wir gut kennen, wurden verletzt. Die Verflechtungen sind so vielfältig.
Nach dem Anschlag habe ich an mir selbst Symptome eines Traumas beobachtet. Morgens konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, nachmittags war ich hyperaktiv. Vielen Jugendlichen ging es natürlich deutlich schlechter. Sie weinten, brachen zusammen. Wir sahen auch eine Zunahme von selbstverletzendem Verhalten: Manche haben so doll gegen Türen geschlagen, dass ihre Hände bluteten.
Wir waren dann jeden Tag im Juz, auch an den Wochenenden. Haben mit den Jugendlichen gemeinsam getrauert und sind immer wieder zu den Gedenkorten gegangen, haben Kerzen entzündet. Wir waren auch gemeinsam auf den Demonstrationen in der Innenstadt. Dieser Zusammenhalt war wichtig für uns alle. Auch für mich. Natürlich habe ich mit meinen Freunden über den Anschlag gesprochen, und natürlich waren die unendlich betroffen. Aber niemand kann die Situation so nachfühlen, wie die, die dabei waren.
Wir haben Hilfe organisiert, traumatherapeutische Beratung, die im Juz stattfand, in gewohnter Umgebung, auch das war sehr wichtig. Seit dem 13. März ist das alles vorbei. Unser Juz wurde geschlossen, wegen Corona. Das ist eine Katastrophe, die auf die eigentliche Katastrophe folgt. Weil das einzige, was hilft, sich gemeinsam zu trösten, sich gemeinsam zu stärken, nicht mehr möglich ist. Die Jugendlichen kamen ja aus gutem Grund zu uns. Viele wohnen in beengten Verhältnissen. Viele Eltern wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern nun umgehen sollen. Die sollen nun allein mit ihrem Trauma klarkommen? Ich weiß nicht, wo das noch hinführt.
Als unser Juz am 13. März ohne Vorwarnung von der Stadt geschlossen wurde, habe ich gedacht: Das ist ein riesiger Fehler. Wir konnten unsere Jugendlichen nicht mal darauf vorbereiten und sind dann mit Flyern durch das Viertel gelaufen, auf denen die Nummern unserer Diensthandys standen. Ruft uns bitte an!, haben wir den Jugendlichen gesagt. Wir sind für euch da! Fast alle sind ja seit den Anschlägen traumatisiert.
Auf meinem Handy haben sich seitdem zehn, vielleicht fünfzehn Jugendliche gemeldet – und ausschließlich praktische Fragen gestellt. Einer wollte zum Bespiel wissen, wie man das Geld bekommt, das den Familien der Opfer als Entschädigung zusteht. Niemand hat angerufen, um zu sagen: Mir geht es emotional total schlecht. Sowas machen unsere Jugendlichen einfach nicht. Die Hemmschwelle ist am Telefon viel zu groß. Vermutlich, weil die Jugendlichen das Gefühl haben, uns zu belästigen. Ein Anruf hat ja immer eine Absicht, ein Ziel. Im Juz unterhalten wir uns dagegen eher zufällig, spontan. Wir schwätzen einfach miteinander.
Nach den Anschlägen gingen in unseren WhatsApp-Gruppen tausende Nachrichten hin und her. Es wurden Fotos vom Tatort, von den Leichen geteilt, worüber sich einige aufgeregt haben. Konflikte wie diese spitzen sich jetzt zu: Neulich ist der Vater von einem der Opfer gestorben, er war schwer krebskrank. In der WhatsApp-Gruppe wurden dann Beileidsbekundungen verschickt – bis sich einer, der die Anschläge knapp überlebt hat, furchtbar darüber ärgerte: Weil er mit dem Thema Tod einfach nicht konfrontiert werden will. Die Nerven liegen blank.
In diesen kurzen, persönlichen Gesprächen mit den Jugendlichen spüre ich eine große Not. Einige sind völlig durch den Wind. Die glauben, die Welt geht unter. Dass es Krieg geben wird. Dass die Amerikaner einmarschieren. Die bräuchten dringend therapeutische Betreuung, aber auch das ist ja nun schwierig. Unsere gruppentherapeutischen Gespräche im Juz wurden natürlich eingestellt.
Ich kann nachvollziehen, dass die Jugendlichen noch immer auf den Straßen unterwegs sind und sich treffen. Zuhause teilen sich viele ein Zimmer mit ihren Geschwistern. Ihre Eltern wissen oft nicht, wie sie mit dem Trauma ihrer Kinder umgehen sollen. Die Spannungen steigen, das hören wir.
Das einzige, was unseren Jugendlichen gerade hilft, ist: gemeinsam zu sein. Neulich haben einige unserer Jungs zum Beispiel Fußball gespielt. Der Bolzplatz war zwar mit Flatterband gesperrt, aber das war ihnen egal. Dann kam die Polizei und meinte: Ihr dürft hier nicht kicken! Die Situation eskalierte, bis unsere Jungs in Handschellen abgeführt wurden.
Einer von ihnen war mit zwei der Opfer sehr eng befreundet. Sie wohnten im selben Haus. Seit den Anschlägen geht es ihm schlecht. Nun, in Handschellen, hatte er das Gefühl: Ich werde gerade vom Opfer zum Täter gemacht.
Als vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass das Bundeskriminalamt bald einen Bericht zu den Anschlägen von Hanau veröffentlichen wird, in dem der Täter offenbar als verwirrter Verschwörungstheoretiker beschrieben wird, hat das viele unserer Jugendlichen sehr empört. Auch mich. Natürlich war das ein rassistischer Anschlag und natürlich gehört dazu ein rassistischer Täter. Vom Himmel fallen solche Morde ja nicht.
Vielleicht hat der BKA-Bericht trotzdem etwas Gutes, denn er schärft die Diskussion um die Schuld. Seit Corona findet diese ja kaum noch vernünftig statt, sowohl öffentlich, als auch unter den Jugendlichen. Einige, mit denen ich gesprochen habe, hatten auf einmal eine ganz andere Sicht auf die Morde. Die sagten zum Beispiel, die Arena Bar – einer der Tatorte – sei ein Ort der Sünde gewesen. Weil dort Alkohol getrunken und an Spielautomaten gezockt wird. Dieser Ort sei zurecht getroffen worden und quasi der eigentliche Täter. Über diese religiöse Wahrnehmung, die plötzlich in die Diskussion kam, haben wir uns große Sorgen gemacht.
Es kursierten ohnehin schon einige krude Theorien unter den Jugendlichen, das fing bereits am Tag nach den Anschlägen an: Etliche Augenzeugen meinten, der Täter sei nicht allein gewesen. Oder hätte ganz anders ausgesehen als Tobias R.. Die waren felsenfest davon überzeugt. Solche Ausfallerscheinungen sind typisch für ein Trauma. Man kann sich nicht mehr richtig erinnern. Daraus ist dann bei einigen hier im Viertel die Überzeugung entstanden: Das, was die Polizei und die Medien sagen, stimmt alles nicht. Der wahre Täter lebt noch. Es gab Eltern, die ihren Kindern verboten, auf die Straße zu gehen, weil sie Angst hatten, dass der Täter noch rumläuft und ihre Kinder erschießt.
In unserer WhatsApp-Gruppe wurden auch Fake-Videos geteilt. Zum Beispiel, dass gerade 500 Neonazis durch Hanau laufen. Viele glaubten das, es gab einen riesigen Shitstorm. Und als neulich wegen der Corona-Pandemie ein NATO-Manöver abgesagt und danach Fotos von amerikanischen Soldaten im Netz geteilt wurden, glaubten einige unserer Jugendlichen, die marschieren hier nun ein. Corona sei nur der Vorwand für einen Krieg.
Warum viele Jugendliche nun so anfällig für solche Verschwörungstheorien sind? Ich denke, sie suchen verzweifelt nach einem Schuldigen und finden einfach keinen. Im Falle der Anschläge ist der Täter tot und kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Das können viele nicht akzeptieren. Verstärkt wird dieses Problem durch die faktische Informationsblockade der Polizei. Weil die Betroffenen nichts über die Ermittlungsergebnisse wissen, entsteht ein Klima, in dem Spekulationen gedeihen.
Hinzu kommt, dass sich einige Jugendliche nun selbst kriminalisiert fühlen, während sie sehen, dass der Vater des Täters geschützt wird. Er wohnt noch immer in dem Haus neben unserem Juz. Nach den Anschlägen nahm ihn die Polizei mit. Ein paar Tage später kam er zurück und es liefen Polizisten durchs Viertel, die unsere Jugendlichen warnten: Sie sollten den Vater in Ruhe lassen. Die Polizisten erwähnten auch, dass sie gehört hätten, dass die Jugendlichen Zäune in der Nachbarschaft eingetreten hätten. Diese Art der Kommunikation war in meinen Augen sehr ungut, die Polizisten hatten kein Fingerspitzengefühl.
Zur gleichen Zeit sammelte das BKA die Handys von einigen unserer Jugendlichen ein und verlangte die Zugangsdaten. Sie müssten in jede Richtung ermitteln. Dieses Vorgehen erinnerte mich ein wenig an die Zeit, als der NSU Migranten mordete, während die Polizei gegen die Familien ermittelte und in den Medien über die »Döner-Morde« berichtet wurde.
Am vergangenen Wochenende wurden nun tatsächlich zwei Autos angezündet, die dem Vater des Täters gehören. Das zeigt natürlich, dass es Menschen im Viertel gibt, die ihn für mitschuldig halten.

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