Weiterfluchten durch EUropa

1. Drei Schlaglichter

Afghanen aus Bayern fliehen vor Seehofers Abschiebechartern nach Paris

Dezember 2018. Vom Gare de l’Est bis zu unserem Treffpunkt mit den afgha­nischen Freunden an der Porte de la Chapelle laufen wir durch Straßen voller migrantischer Läden aller Art: indische Schneiderei mit Money Transfer, pakistanische Money Transfer neben Western Union, ein kamerunischer Friseur, ein somalisches Restaurant, ein afghanischer Lebensmittelladen, ein sudanesischer Halal-Imbiss… alle nebeneinander. Über einem Friseur-Laden wird Beratung auf Bengalisch bei Problemen mit der Ausländerbehörde (OPFRA) angeboten. Paris zeigt in diesen lebendigen Straßen jedenfalls, dass der ganze rassistische Irrsinn dieser Zeit eigentlich schon verloren hat. An jeder Ecke ist eine informelle Realität der Migration spürbar, die jenseits des legalen Rahmens Nischen schaffen kann und hier eine lange Geschichte hat. Mit zwei afghanischen Freunden aus Bayern sitzen wir in einem afghanisch-indischen Hamburger-Pommes-Döner-Imbiss, in dem es genug Steckdosen zum Handy-Aufladen gibt und Neuankommende das Essen billiger bekommen. Hier sitzen auch einige mit Schlafsäcken als Gepäck. Ein weiterer afghanischer Freund aus Graz in Österreich kommt irgendwann dazu. Gemeinsam erklären sie uns in verständlichen Schritten das System und was wichtig sein könnte für Andere, die noch kommen werden. Von der Schwierigkeit, Unterkunft zu finden, sprechen sie, von den ersten Nächten auf der Straße und wie schwer es ist, einen Ort zu finden, um den Akku des Handys aufzuladen, wenn man auf der Straße lebt. Wir lernen, wie wichtig eine französische SIM-Karte am Anfang ist, denn der erste Schritt in Paris ist, sich bei der Asylbehörde zu registrieren über einen Telefonanruf. Reza*, der am längsten da ist, hat die Räumung eines informellen Settlements nahe der Porte de la Chapelle miterlebt. Die Bewohner*innen wurden danach auf unterschiedliche Turnhallen außerhalb Paris verteilt und haben dann nach einem längeren Prozedere fürs Erste Unterkünfte bekommen. Finanzielle Unterstützung bekommen sie jedoch nicht und sie befürchten, in Kürze aufgrund des Dublin-Verfahrens wieder komplett aus dem System zu fallen und viele weitere Monate auf der Straße zu verbringen, wenn sie der Abschiebung zurück nach Deutschland entgehen wollen. (…)

Bei einer Schutzquote zwischen 70 und über 80% für afghanische Geflüchtete ist die Chance, in Frankreich ein Bleiberecht zu erhalten, in der Tat deutlich besser als in anderen europäischen Ländern – wäre da nicht die Dublin-Verordnung. Die Wahrscheinlichkeit der Dublin-Überstellung nach Deutschland ist deutlich gegeben – absurderweise werden ungefähr genauso viele Menschen von Deutschland nach Frankreich (753 Personen im Jahr 2018), wie von Frankreich nach Deutschland überstellt (978 in 2018). Und so bleibt Vielen nur, in Frankreich unterzutauchen und damit eine verlängerte Überstellungsfrist auf 18 Monate in Kauf zu nehmen. Ist diese Frist abgelaufen, muss das Asylverfahren in Frankreich durchgeführt werden. Untertauchen bedeutet für Viele, zwei Jahre in Obdachlosigkeit und ohne jegliche staatliche Unterstützung überleben zu müssen. Sie leben in Slums oder unter freiem Himmel, sie sprechen kein Französisch, sondern bayrisches Deutsch. Man nennt sie dort „die Deutschen“. Dennoch ist das Leben auf der Straße allemal besser als eine Abschiebung nach Kabul – was in der Regel heißt, den gefährlichen Weg auch über das Meer noch einmal wagen zu müssen.

Pakistanische Hessen in ­Norditalien

Februar 2018. Ein Café in Gorizia, Nord­italien. An den Tischen sitzen Männer stundenlang mit einer Tasse Tee, laden ihre Handys und unterhalten sich. So gut wie jeder, stellt sich heraus, spricht hier neben Urdu auch Deutsch. Ein Treffpunkt für neu angekommene Pakistani aus Deutschland und Österreich, die sich in Norditalien zur erneuten Stellung eines Asylantrags einfinden. Denn anders als Österreich und Deutschland schiebt Italien nach wie vor nicht nach Pakistan ab. (…)

Im Rhein-Main-Gebiet leben viele Menschen, vor allem Männer, aus Pakistan. Etwa ein Drittel aller pakistanischen Migranten in Deutschland lebt in Hessen. In aller Regel hatten sie irgendwann erfolglos Asylanträge gestellt und lebten über Jahre, sehr viele seit 2015, nicht wenige auch noch länger, mit Duldungen in Deutschland. Die pakistanische Regierung kooperierte bis Anfang 2017 nicht bei der Ausstellung von Reisepapieren für Abschiebungen. Viele pakistanische Migranten lebten in dieser Zeit zwar nur mit Duldung, aber faktisch war die Abschiebung aufgrund fehlender Reisedokumente unmöglich. Die meisten arbeiteten, oftmals in der Gastronomie (vor allem in Pizzerien), aber auch auf dem Bau. Mit den ersten Abschiebecharter-Flügen ab Anfang 2017 änderte sich die Situation. (…) Allein im Jahr 2018 wurden 367 Menschen nach Pakistan abgeschoben, der größte Teil in insgesamt 12 Sammelchartern. Beinahe jeden Monat flog ein Flieger, immer unter Koordination von Frontex, unter anderem aus Frankfurt, Berlin und Düsseldorf nach Islamabad. (…)
Mit Salvinis rassistischen Gesetzesverschärfungen wurde es dann ab Juni 2018 für die pakistanischen Freunde auch in Norditalien immer enger. Aktuell macht die Weiterflucht nach Norditalien immer weniger Sinn. Zwar gab es nach wie vor keine Abschiebungen aus Italien nach Pakistan, jedoch ist es kaum mehr möglich, einen Aufenthalt zu bekommen. Auch denjenigen, die bereits temporär legalisiert waren, droht inzwischen der Entzug des humanitären Status, der seit der Verabschiedung des sogenannten Sicherheitsdekrets Ende 2018 nicht mehr vergeben wird. Und so pendeln auch manche der pakistanischen Freunde wieder nach Deutschland. Sie suchen erneut Rat, ob sie doch hier noch einmal versuchen könnten, Fuß zu fassen. Es sind im Vergleich zur Zahl der Geduldeten ja prozentual nur wenige, die es schlussendlich tatsächlich erwischt und abgeschoben werden. Und manche denken darüber nach, einen neuen „Plan B“ zu entwickeln, und vergleichen auf ein Neues die Möglichkeiten, in verschiedenen Ländern Europas, notfalls illegalisiert über die Runden zu kommen.

Somalische Frauen aus Skandinavien und Eritreerinnen aus Schweizer Bunkern fliehen weiter nach Deutschland

Ein ganz normaler Montag um 15 Uhr: im Beratungscafé eines kleinen besetzen Hauses in Hanau wird es lebendig. Zwischen den Kinderwägen ist kaum mehr ein Durchkommen, es wird Tischkicker gespielt und sich unterhalten, auf der Bühne im Konzertraum beten zwei Frauen. Waren es 2013, als hier die Selbstorganisierung ostafrikanischer Geflüchteter mit „Lampedusa in Hanau“ entstanden ist, noch fast ausschließlich Dublin-Verfahren nach Italien, so haben wir es spätestens ab 2017 mit Abschiebeandrohungen in nahezu alle europäischen Länder zu tun. Ein Iraner mit Fingerabdrücken in Frankreich, eine irakische Frau mit Kleinkind, die in den Niederlanden ein erfolgloses Asylverfahren durchlaufen hat, ein somalischer Mann, der nach Ablehnung in Belgien auf der Straße gelebt hatte, eritreische Geflüchtete aus der Schweiz, die in Bunkern hatten leben müssen und immer wieder Skandinavien: Afghanen, die in Schweden vor der Abschiebung flohen, somalische Frauen, denen dasselbe in Norwegen drohte. Alle von ihnen hatten gute Gründe zur Weiterflucht – und für alle beginnt ein neuer Kampf ums Bleiberecht, der sich wieder über mehrere Jahre hinziehen wird. Denn selbst wenn sie es schaffen, die Dublin-Abschiebung zu verhindern, dann haben sie in der Regel einen langwierigen Klageweg vor sich, weil die Asylanträge in Deutschland oftmals als Zweitanträge abgelehnt werden. Wenn bereits ein Asylverfahren in einem europäischen Land negativ abgeschlossen wurde, dann wird das Verfahren hier wie ein Folgeantrag gewertet, bei dem nur neue Gründe zählen. Innerhalb weniger Stunden lassen sich hier die zermürbenden Folgen EUropäischer Asylpolitik erleben – und immer auch die Hartnäckigkeit der Menschen, diese durchzustehen. (…)
(…)

2. Weiterflucht als Widerstand gegen den Abschiebeterror

Diese Weiterfluchten sind nicht nur verzweifelte Flucht, sie sind aktiver Widerstand gegen die Maschinerie der Abschiebungen. In einer Zeit, in der sich europäische Innenminister überbieten in ihrer Vorstellung von Effektivierung der Gnadenlosigkeit, setzen sie der Abschiebe-Industrie eine Abstimmung mit den Füßen entgegen. Sie bauen auf die gewachsenen migrantischen Strukturen, wie wir sie in Paris erlebt und im ersten Teil dieses Textes beschrieben haben. Darin finden sie Wege, die in der Regel sehr steinig sind und die sie dennoch der erzwungenen Rückkehr vorziehen. Auf der Suche nach einem Leben ohne ständige Angst machen sie sich aus Ländern innerhalb Europas, die sie ursprünglich für das Ziel ihrer Reise gehalten hatten, wieder auf den Weg.

Oftmals sind sie dabei – wie viele der pakistanischen Freunde in Norditalien – massiver Ausbeutung ausgesetzt. Oft genug auch innerhalb der migrantischen Communities, die ihnen zugleich aber als einzige Schutz und die nötige, wenn auch oftmals sehr prekäre Infrastruktur bieten können, die sie brauchen. Weiterflüchtende sind oftmals besonders verletzlich. Insbesondere für Frauen auf der Flucht erhöht die Weiterflucht und die erneute Illegalisierung die Gefahr sexualisierter Gewalt.

Viele haben bereits jahrelang um eine Bleibeperspektive gekämpft und sind entsprechend auch erschöpfter als zuvor. Nicht wenige haben die Jahre der Unsicherheit zermürbt. Sie sind auf der Weiterflucht oft erneut mit Obdachlosigkeit konfrontiert und dadurch stärker gefährdet, massive gesundheitliche Probleme davonzutragen. Ein großes Problem sind z.B. in Frankreich (und übrigens auch in vielen anderen Ländern) die Lebensbedingungen während des Dublin-Verfahrens: viele Betroffene bekommen erst nach langen Wartezeiten (wenn überhaupt) Unterkünfte, die sie wieder verlieren, sobald sie im Dublin-Verfahren die Meldepflicht bei den lokalen Polizeistationen nicht erfüllen. Es sind seit der Räumung der „Jungles“ in Calais zunächst in Paris, inzwischen an vielen Orten Frankreichs neue informelle Settlements entstanden. Es scheint politisches Interesse zu sein, diese Settlements zwar immer wieder zu räumen, grundsätzlich aber als abschreckendes Zeichen eigentlich zu fördern. Eine Sozialarbeiterin einer Hilfsorganisation in Paris beschrieb uns eindrücklich die Gefahr der Retraumatisierung und schließlich der Verelendung in der Obdachlosigkeit, viele junge Heranwachsende verlören sich auf der Straße und seien schließlich dafür anfällig, sich zumindest kurzfristig zu betäuben und endeten dann oftmals in der Drogenabhängigkeit.

3. Solidarische Städte in ­Verbindung

„From the sea to the cities“, vom Meer bis in die Städte, hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk solidarischer Strukturen gebildet, das in der Unterstützung aus Seenot geretteter Geflüchteter seinen Ursprung nahm. Hier treffen sich Seenotrettungs-NGOs mit Vertreter*innen aus den Kommunen EUropas, die eine andere, eine solidarische Haltung gegenüber Migrationsbewegungen einnehmen. Sie nehmen Verbindungen auf mit den aktivistischen Bewegungen wie den Seebrücke-Netzwerken hier in Deutschland. Diese oftmals informellen Netzwerke können ein wichtiger Baustein sein, um Verbindungen zu halten und migrantische Communities in Europa zu stärken und um ihnen Rückendeckung zu geben für die alltägliche Unterstützungsarbeit.

Notwendig ist nach wie vor eine gut vernetzte „Underground Railroad“ für Bewegungsfreiheit, eine Struktur die auch die oftmals notwendigen Weiterfluchten unterstützt. In Zeiten in denen es keinen Ort der Freiheit gibt, können die Bewegungen in alle Richtungen stattfinden, nicht nur von den Hafenstädten des Mittelmeeres in Richtung der Metropolen, sondern manchmal auch wieder von Norden Richtung Süden. Entlang der Routen, die die Verschiebungen von nutzbaren Rahmenbedingungen innerhalb EUropas markieren, kann so auch eine Karte der Solidarität entstehen.

Hierfür sind nicht zuletzt Orte und Anlaufstellen wichtig. Manche entstehen wie der aus Paris beschriebene Fast-Food-Imbiss, der als Handy-Aufladestation dient und in dem Geflüchtete ohne großen Konsumzwang Tee trinken und sich austauschen können, aus der solidarischen Haltung Einzelner. Sie sind genauso wichtig wie besetzte Häuser und soziale Zentren, die nicht zuletzt als kollektiv geschaffene Kontaktbörsen dienen. In Athen gibt es das besetzte siebenstöckige City Plaza Hotel, in dem bis zu 400 Geflüchtete zeitgleich ein temporäres Zuhause finden. Es hat auch die Funktion, über solidarische Strukturen zu informieren, an die weiterfliehende Menschen anknüpfen können.
Nicht zuletzt hat sich City Plaza auch der permanenten Herausforderung gestellt, wie sich in diesen Räumen die Kämpfe von Frauen wiederfinden und wie solidarische Orte so gestaltet werden können, dass sie Ausbeutung und struktureller Gewalt möglichst wenig Raum bieten und dort über Erfahrungen von Sexismus und Rassismus offen gesprochen werden kann. Die dort gemachten Erfahrungen zu vermitteln wäre einen eigenen Text wert, denn es sind zentrale Herausforderungen, wenn es um das Entwickeln solidarischer Alltagsstrukturen geht. Das City Plaza Squat ist ein „Leuchtturm“ und in seiner Größe und Kontinuität von inzwischen über 3 Jahren sicher einzigartig. Es steht dennoch stellvertretend für viele andere Orte, die weniger öffentlich sind und mehr im Stillen solche Informationsknotenpunkte der Solidarität bereits gebildet haben, Erfahrungen machen und sich darin weiterentwickeln.

Wenn Transit nicht mehr an der Außengrenze EUropas bleibt, sondern sich mit den zunehmenden Weiterfluchten und einer zunehmenden Illegalisierung quasi in seine Mitte verschiebt, dann brauchen wir die Erfahrungen aus dem Transit auch für die Metropolen im Kern der EU. Wir brauchen mehr dieser solidarischen Orte, wir brauchen eine engere Vernetzung mit Community-Strukturen und wir brauchen nicht zuletzt Lernprozesse aus erfolgreichen Praktiken.
(…)
Auch Städte in Deutschland sind Stationen des Transits. Die verlängerten Überstellungsfristen in den Dublin-Verfahren, die immer mehr Menschen zwingen bis zu 18 Monate völlig entrechtet zu überstehen, gelten auch hier als Mittel der Wahl, um über die lange Dauer Abschreckungseffekte zu erzeugen. Immer mehr Menschen halten sich über lange Zeiten illegalisiert in den Städten auf, um diese Fristen zu überstehen. Hier brauchen wir mehr Strukturen und ein Netz der Unterstützung.

Wir brauchen also mehr Soli-Zimmer und -Wohnungen. Wir brauchen mehr Anlaufstellen auch für diejenigen, die komplett entrechtet sind, in denen es möglich ist, jenseits der gesetzlich immer enger werdenden Vorgaben Perspektiven für jede Einzelne und jeden Einzelnen zu entwickeln. Und wir brauchen vor allem eine Stärkung der Community-Strukturen, die solidarisch sind, und Möglichkeiten, diese miteinander in Verbindung zu bringen. Das ist nicht so schwer, denn vieles davon gibt es bereits. Wir brauchen einen langen Atem, um dieses Migrationsregime zu überwinden – und wir brauchen den Mut, jeden Tag gleiche Rechte für Alle durchzusetzen. In allen Städten auch entgegen nationalstaatlicher Gesetzgebungen von gestern. In Italien machen es uns die solidarischen Hafenstädte schon vor.
kein mensch ist illegal hanau / Welcome to Europe

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