Brief eines Gilet Jaune im Gefängnis

Guten Tag,
Ich heiße Thomas. Ich bin einer von vielen Gilets Jaunes, die in diesem Moment im Gefängnis schlafen. Seit fast 3 Monaten bin ich in Fleury-Mérogis im Rahmen einer Untersuchungshaft eingesperrt [verhaftet am 9. Februar wartet Thomas seit dem 12. Februar auf seinen Prozess, AdÜ].
Nach meiner Teilnahme am Akt XIII in Paris wirft man mir nicht wenige Dinge vor [„sinnhafte“ Übersetzung der juristischen Vorwürfe, AdÜ]:

  • „Beschädigung oder Abwertung des Eigentums Anderer“
  • „Beschädigung oder Abwertung des Eigentums Anderer mit für Personen gefährlichen Mitteln“ (ein brennender Porsche)
  • „Beschädigung oder Abwertung des Eigentums Anderer mit, für Personen gefährlichen Mitteln, begangen aufgrund der Eigenschaft der Person oder des Sache als Inhaber öffentlicher Autorität“ (das Ministerium der Streitkräfte)
  • „Beschädigung oder Abwertung eines Gutes des öffentlichen Nutzens oder der Dekoration“ (Angriff auf einen Polizeiwagen und ein Auto der Gefängnisverwaltung)
  • „Gewalt, verstärkt durch zwei Umstände (mit Waffe und gegen eine Person öffentlicher Autorität), gefolgt von Arbeitsunfähigkeit unter 8 Tagen“ (die Waffe soll eine Baustellenabsperrung sein, gegen dasselbe Polizeiauto, 2 Tage arbeitsunfähig wegen Trauma)
  • „Gewalt gegen eine Person öffentlicher Autorität, ohne Arbeitsunfähigkeit“
  • „Zusammenrottung zu einer Gruppe mit dem Ziel Gewalttaten gegen Personen oder Sachen zu begehen“

Ich habe tatsächlich einige dieser Taten begangen, die sich hinter diesen schnarchenden Formulierungen verbergen… Und ich übernehme die Verantwortung für sie. Ich bin mir bewusst, dass ich riskiere ein wenig länger im Gefängnis zu bleiben, wenn ich dies schreibe und ich kann all jene sehr gut verstehen, die bevorzugen, sich vor der Justiz nicht zu ihren Taten zu bekennen und auf mögliche Milde zu hoffen.

Wenn man diese lange Liste der Delikte und ihre Benennung liest, könnte man mich für einen Wahnsinnigen halten, oder nicht? So wurde ich übrigens in den Medien beschrieben. Zuletzt hat man mich auf ein praktisches Wort reduziert: „Casseur“ [ähnlich Randalierer*In, AdÜ]. Einfach. „Warum hat dieser Typ Sachen kaputt gemacht?“ – „Weil er ein „Casseur“ ist, das ist eindeutig.“ Alles ist gesagt, gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen und vor allem nichts zu verstehen. Vermutlich werden manche als „Casseur“ geboren. Man kann sich sparen sich zu fragen, warum ein Geschäft eher zum Ziel wird als ein anderes und ob diese Handlungen nicht zufällig einen Sinn hätten, zumindest für diejenigen, die das Risiko auf sich nehmen, sie zu begehen.

Est ist übrigens schon ironisch, dass ich mich als „Casseur“ stigmatisiert wiederfinde, besonders, weil das was ich im Leben am meisten schätze, das Aufbauen ist. Tischlern, Dachdecken, Maurern, Klämpnern, Elektrizität, Schweißen… Basteln, alles was rumfliegt zu reparieren, ein Haus vom Fundament bis zur Spitze zu bauen, das ist meins. Naja, es ist wahr nichts von dem, was ich gebaut oder repariert habe, gleicht einer Bank oder einem Polizeiauto.

In einigen Medien hat man mich auch als „brutal“ gehandelt, obwohl ich nie jemand gewalttätiges war. Man könnte sogar sagen, dass ich zart bin. So sehr, dass es mir das Leben in meiner Jugend kompliziert gemacht hat. Sicherlich, im Leben machen wir alle schwierigen Situationen durch und man härtet sich ab. Glaubt aber nicht, dass ich versuche zu sagen, dass ich ein Lamm oder ein Opfer bin.

Man ist nicht mehr unschuldig, wenn man die „legitime“ Gewalt gesehen hat, die legale Gewalt: die der Polizei. Ich habe den Hass oder die leere in ihren Augen gesehen und ich habe ihre eisiegen Ansagen gehört: „lösen Sie auf, gehen Sie nach Hause“. Ich habe die Angriffe, die Granaten, die regelmäßigen Schläge gesehen. Ich habe die Kontrollen, die Dursuchungen, die Kessel, die Verhaftungen und das Gefängnis gesehen. Ich habe die Leute blutend zusammenbrechen und die Verstümmelten gesehen. So wie alle, die an diesem 9. Februar demonstriert haben, habe ich mitbekommen, dass wieder einem Mann die Hand durch eine Granate abgerissen wurde. Danach habe ich nichts mehr gesehen, wegen dem Gas. Wir ersticken alle. In diesem Moment habe ich mich entschieden kein Opfer mehr zu sein und zu kämpfen. Darauf bin ich stolz. Stolz den Kopf gehoben und nicht der Angst nachgegeben zu haben.

Natürlich, so wie alle die von der Repression der Bewegung der Gilets Jaunes betroffen sind, habe ich zuerst friedlich demonstriert und im Alltag regle ich meine Probleme immer eher mit Worten als mit den Fäusten. Aber ich bin überzeugt, dass der Konflikt in bestimmten Situationen notwendig ist. Weil die Debatte, so „groß“ wie sie auch sein mag, manchmal verzerrt oder gefälscht sein kann [Anspielung auf die „große Debatte“ initiiert von Macron, AdÜ]. Es reicht, dass derjenige, der sie organisiert die Fragen so stellt, wie es ihm passt. Auf der einen Seite sagt man uns, dass die Staatskassen leer sind, aber man unterstütz die Banken mit Millionen sobald sie in Schwierigkeiten sind, man erzählt uns von der „ökologischen Wende“ ohne jemals das System von Produktion und Konsum infrage zu stellen, dass der Ursprung des Klimawandels ist. Wir sind Millionen, die ihnen entgegenschreien, dass ihr System verdorben ist und sie erklären uns, wie sie es behaupten zu schützen.
Im Grunde genommen ist alles eine Frage des Maßes. Es gibt einen angemessenen Gebrauch von Zärtlichkeit, einen angemessenen Gebrauch von Worten und einen angemessenen Gebrauch von Gewalt.

Wir müssen die Dinge in die Hand nehmen und aufhören die Mächte zu bitten, die so entschlossen sind, uns gegen die Wand zu fahren. Wir brauchen ein wenig Ernst, ein bisschen Ehre und müssen anerkennen, dass eine bestimmte Anzahl von Systemen, Organisationen und Unternehmen unsere Leben genauso zerstören wie unsere Umwelt und dass wir sie eines Tages aus dem Weg räumen müssen. Das impliziert zu handeln, das heißt Gesten, das heißt Entscheidungen: manif sauvage [„wilde Demo“, d.h. „Sponti“ ,AdÜ] oder Aufrechterhaltung der Ordnung?

Dazu höre ich viele Dummheiten im Fernsehen, aber es gibt eine, die mir besonders grob erscheint. Nein, kein Demonstrant versucht einen „Bullen zu töten“. Die Herausforderung der Straßenkämpfe besteht darin, es zu schaffen die Polizei zurückzudrängen, sie auf Respekt zu halten: Um aus einem Kessel herauszukommen, einen Ort der Macht zu erreichen oder sich ganz einfach die Straße zu nehmen. Die, die seit dem 17. November damit drohen, ihre Waffen zu ziehen, die, die brutal gegen unbewaffnete und schutzlose Demonstranten vorgehen, verstümmeln und ersticken sind nicht die sogenannten „Casseurs“, sondern die Ordnungskräfte. Selbst wenn die Medien wenig davon sprechen, die Hunderttausenden, die auf die Kreisel und die Straße gegangen sind wissen es. Hinter ihrer Brutalität und ihren Drohungen versteckt sich die Angst. Und wenn dieser Moment kommt, ist die Revolution im Allgemeinen nicht so weit.

Auch wenn ich nie Lust darauf hatte meinen Namen in der Presse ausgebreitet zu sehen, ist es jetzt doch der Fall und weil ich erwarte, dass Journalisten und Staatsanwälte/Richter [„magistrats“ kann beides heißen, AdÜ] mein Privatleben genau erforschen werden, kann ich genauso gut für mich selbst sprechen. Hier also meine kleine Geschichte. Nach einer banalen Kindheit in einer Kleinstadt von Poitou, bin ich in die „Großstadt“ nebenan gegangen, um zu studieren, das Elternhaus zu verlassen (auch wenn ich meine Eltern sehr liebe), das aktive Leben zu beginnen. Nicht mit dem Ziel Arbeit zu finden und Kredite aufzunehmen, nein, vielmehr um zu reisen, neue Erfahrungen zu machen, die Liebe zu finden, verrückte Dinge zu erleben, das Abenteuer halt. Die, die mit 17 nicht davon träumen, müssen wirklich gestört sein.

Diese Möglichkeit war für mich die Uni, aber ich wurde schnell von der herrschenden Langeweile und Apathie desillusioniert. Dann stieß ich zufällig auf eine Generalversammlung zu Beginn der Bewegung gegen die Rentenreform. Es gab Leute, die die Uni blockieren wollten und meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich habe ein einige kennengelernt, die ein Haus besetzen und sich den Hafenarbeitern anschließen wollten. Am nächsten Tag begleitete ich sie um die Räumlichkeiten des Medef [größter französischer Unternehmer*Innenverband, AdÜ] einzumauern und „Macht dem Volke“ auf die frischen Steine zu taggen. Das war also der Tag, an dem der Mann, der ich heute bin, geboren wurde.
So bin ich seit mittlerweile 4 Monaten zu den Gilets Jaunes gekommen. Es ist die schönste und kraftvollste Bewegung die ich jemals gesehen habe. Ich habe mich, ohne zu zögern mit Körper und Seele in sie hineingeworfen. Am Nachmittag meiner Verhaftung kamen mehrmals Leute zu mir um mich zu grüßen, sich zu bedanken oder mir zu sagen, ich solle auf mich aufpassen. Die Taten die mir vorgeworfen werden, die, die ich begangen habe und die anderen sind in der Realität kollektiv. Und das ist genau das, wovor die Macht Angst hat und weshalb sie uns unterdrückt und einzeln einsperrt, in dem Versuch, uns gegeneinander aufzubringen. Den netten Bürger gegen den bösen „Casseur“. Aber ganz deutlich scheinen weder der Schlagstock, noch das Gefängnis diese Bewegung aufzuhalten. Ich bin mit ganzem Herzen bei denen, die weitermachen.
Aus den Mauern von Fleury-Merogis, Thomas, Gilet Jaune. 29.04.2019

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